Beweislast
Wie bereits in den Wochen zuvor, gab es keine geeigneten Angebote für ihn. Darüber erbost, verließ er das Büro und fasste den Entschluss, sich bei geeigneter Gelegenheit an Friedbert Grauer für dessen vermeintliche Arroganz zu rächen. Die Chance dafür bot sich noch am selben Tag …«
Ketschmar schloss die Augen. Er wollte dies nicht hören. Während Bändele weiterlas, schüttelte er immer wieder den Kopf. Nein, so war es nicht, nein, niemals. Am liebsten hätte er es laut hinausgeschrien. Doch Manuel hatte ihn inständig gebeten, die Verhandlung nicht zu stören.
Er spürte plötzlich die Blicke der Schöffin, die ihm am nächsten saß. Ketschmar öffnete die Augen und sah in das Gesicht einer Frau, die vielleicht seine Tochter hätte sein können. Eine gepflegte Erscheinung. Sie sahen sich für ein paar Sekunden an. Dann wich sie seinen Blicken aus, ohne eine Miene zu verziehen. Was sie wohl dachte? Ketschmars Augen hingen noch einige Momente an ihr, ehe er die Richterin neben ihr musterte. Sie war sogar noch wesentlich jünger. Vielleicht gerade erst von der Uni gekommen. Er hatte keine Ahnung, welche Stationen man durchlaufen musste, um einer Schwurgerichtskammer angehören zu dürfen. Aber wahrscheinlich war einiges an praktischer Erfahrung notwendig. Vielleicht sah die Richterin auch nur so jung aus und war in Wirklichkeit doch älter. Jedenfalls konnte sie ihn für immer hinter Gitter schicken. Da spielte es doch keine Rolle, wie alt sie war. Er versuchte, den Gedanken daran zu verdrängen. Doch so sehr er sich auch auf den Text der Anklageschrift konzentrieren wollte – es gelang ihm nicht. Wahrscheinlich, so hämmerte es in seinem Kopf, wahrscheinlich war er schon 15 gewesen, als diese Richterin, die jetzt über ihn richten würde, gerade erst geboren wurde. Vielleicht war er diesem Baby damals irgendwo sogar begegnet, rein zufällig. Er als Jugendlicher, dort dieses Mädchen im Kinderwagen. Welches schreckliche Schicksal hatte sie jetzt zusammengebracht? Wer gab diesem Baby von damals das Recht, über ihn zu richten?
Der Staatsanwalt hatte inzwischen die drei Seiten seiner Anklageschrift verlesen.
»Danke sehr, Herr Staatsanwalt«, sagte der Vorsitzende und stellte fest, dass die Anklage entsprechend zugelassen worden sei. Dann wandte er sich dem Angeklagten zu: »Sie haben die Anklage gehört. Ich muss Sie belehren, dass es Ihnen nach dem Gesetz freisteht, Angaben dazu zu machen oder zu schweigen. »Wie wollen Sie es halten?«
Ketschmar sah zu Manuel, der ihm mit Kopfnicken zu verstehen gab, dass er eine Aussage machen solle. »Ich mache Angaben«, presste er deshalb hervor. Das Herz schlug ihm bis in den Hals.
»Nachdem Sie Angaben machen wollen, zunächst mal die Frage: Ist dies so richtig, was in der Anklageschrift steht?«
Ketschmar holte tief Luft und sah dem Richter fest in die Augen. »Nein, Herr Vorsitzender. Es ist nicht richtig.« Er hatte diese Sätze in der U-Haft viele Male geübt, um sie so überzeugend wie möglich rüberzubringen. »Ich bin unschuldig. Und wenn es eine Gerechtigkeit gibt …« – er stockte – »… wenn es eine Gerechtigkeit gibt, dann wird sich zeigen, dass alles ein großer Irrtum ist.« Manuel griff ihn an den linken Unterarm, um ihn an weiteren Kommentaren oder gar emotionalen Ausbrüchen vorläufig zu hindern. Der Staatsanwalt blätterte in einer Zeitung. Für ihn schien der Fall klar zu sein. In der ersten Reihe der Zuschauerplätze schrieb ein Journalist eifrig mit.
»Herr Ketschmar will ausführliche Angaben machen«, schaltete sich Manuel ein, um die Sachlichkeit beizubehalten.
»Wir hören«, entgegnete Muckenhans, während der rechts von ihm sitzende Richter Elmar Friesenmeiler seinen Ledersessel so weit seitlich drehte, dass er dem Angeklagten direkt ins Gesicht blicken konnte.
»Es stimmt, dass ich Herrn Grauer gekannt habe«, begann Ketschmar, »es stimmt, dass er mein Berater beim Arbeitsamt war. Ich bin auch am Vormittag des 18. November bei ihm gewesen. Aber danach habe ich ihn nicht mehr gesehen. Ich hab das schon mehrmals gesagt und geschrieben – ich weiß nicht, was ich noch tun soll. Ich hab den Mann nicht umgebracht. Sie müssen mir das glauben …« Er brach ab.
»Darauf kommen wir noch«, erklärte Muckenhans sachlich. »Sie waren also bei Herrn Grauer im Büro … und da ist etwas geschehen …?«
Ketschmar wusste sofort, worauf der Vorsitzende hinauswollte. »Ich hab ihn angespuckt. Ja, ich hab ihn angespuckt. Aus
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