Beweislast
blühten noch einige Herbstastern, doch von der Blütenpracht des Sommers war nun nichts mehr zu sehen.
»Sag mal«, begann Ketschmar plötzlich zögernd, als sie in der Diele hinter sich die Haustür geschlossen hatten. »Was hältst du von der Idee, übers Wochenende zu Chrissi zu fahren?« Er streifte seine Jacke ab und hängte sie an die Garderobe.
Monika sah ihn verwundert an. »Jetzt – heute noch?« Auch sie zog ihre Jacke aus, wischte eine Haarsträhne aus der Stirn und blieb vor ihm stehen.
»Warum nicht? Sie sagt doch immer, wir könnten jederzeit kommen – naja …« Er lächelte, »… und unser Zimmer haben wir ja schließlich.«
Ihre Tochter wohnte zusammen mit ihrem Ehemann, einem erfolgreichen Rechtsanwalt, in Ulm. Dort hatten die beiden in einem der Vorstadtbezirke eine stattliche Hangvilla gebaut – mit Einliegerwohnung. Darin hatte Chrissi ihren Eltern ein kleines Feriendomizil geschaffen, das sie jederzeit nutzen konnten.
Monika überlegte und sah ihrem Mann in die unruhigen Augen. »Du wolltest doch das Auto heute nicht mehr bewegen.« Kaum, dass sie es gesagt hatte, bereute sie es wieder. Sie wollte ihm keine Vorhaltungen machen, ihn nicht maßregeln. Er brauchte Abstand, Ruhe, Tapetenwechsel. Das spürte sie und fügte deshalb sofort hinzu: »Wenns dir gut tut – okay.« Sie lächelte. »Hol den Schlüssel.«
Aus seinem Gesicht wich die Anspannung. Dass sie so schnell zustimmen würde, hatte er nicht gedacht. Aber wahrscheinlich tat es ihnen beiden gut. Sie konnten heute Abend vielleicht noch durch Ulm bummeln – auch wenn es ihm schwer fallen würde, Geld für ein gemütliches Abendessen im Fischerviertel auszugeben.
Er strich ihr übers feuchte Haar, ging zur Schlafzimmertür und sah am Telefon, das auf einem Sideboard stand, die rote Diode glimmen, die ein aufgezeichnetes Gespräch signalisierte. Ketschmar ignorierte es, wandte sich dem Schlafzimmer zu und packte Hemd, Hose, Unterwäsche und einen Jogginganzug in eine blaue Sporttasche. Seine Frau schaffte einen Wäschekorb herbei, in den sie ein paar Kleidungsstücke legte. Sie waren im schnellen Packen für einen Kurzaufenthalt in Ulm geübt. Schließlich brauchten sie nicht viel, denn die Einliegerwohnung war komplett eingerichtet.
Vielleicht würden sie eines Tages ganz dort wohnen müssen, dachte Ketschmar – dann nämlich, wenn sie ihr Haus in Donzdorf finanziell nicht mehr halten konnten. Die Vorstellung, der Tochter zur Last zu fallen, verdrängte er in solchen Augenblicken sofort wieder. Nicht, dass das Verhältnis zu ihr oder dem Schwiegersohn schlecht gewesen wäre. Allein die räumliche Nähe zueinander mochte er sich nicht vorstellen.
Kaum eine halbe Stunde später saßen sie im Golf, den er rückwärts aus der Garage rollen ließ. Die Dämmerung war bereits weit fortgeschritten. Er ließ das Tor mit der Fernsteuerung nach unten gleiten und steuerte den Wagen durch das Wohngebiet.
Monika legte ihre linke Hand auf seine Schulter. »Das wird dir gut tun«, lächelte sie, während er jetzt nach links auf die Bundesstraße 466 einbog.
Ketschmar sah seine Frau von der Seite an. »Ich hoffe es«, sagte er mit einem tiefen Seufzer. »Nächste Woche hab ich nochmal zwei Vorstellungsgespräche.«
»Versuch jetzt bitte an etwas anderes zu denken«, mahnte sie und stellte das Radio an. Eine Sportreportage war zu hören, worauf sie sofort eine andere Taste drückte und bei ›Radio 7‹ blieb. Ein Oldie wurde gespielt.
»Du solltest mal sehen«, machte er trotzdem weiter, »egal, ob du bei einem Großunternehmer bist oder in einer kleinen Klitsche – meist tauchen da Arbeitskolonnen aus Südosteuropa auf. Subunternehmer sagt man dazu. Billigarbeitskräfte.« Er schüttelte angewidert den Kopf. »Ich möcht nicht wissen, wie viele davon nicht bei der Sozialversicherung gemeldet sind. Alles verkappte Schwarzarbeit.«
Monika sagte nichts. Sie schwiegen und lauschten der Musik. Einer ihrer Lieblingstitel wurde gespielt. ›Chariots of Fire‹ von Vangelis. Eine dramatische Musik, die doch so etwas wie Aufbruchstimmung zu vermitteln vermochte. Sie hatten den Titel erstmals gehört, als sie vor über 20 Jahren mit einem gemieteten Camper durch den Wilden Westen von Amerika getingelt waren. Ein letztes Stück Abenteuer wars gewesen. Im heißen Tal des Todes oder nachts, bei einem Lagerfeuer, in der Einsamkeit der Prärie.
Wann immer sie diese Musik hörten, tauchten die Bilder wieder auf.
Ketschmar hatte Süßen erreicht und
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