Beweislast
bog nach links in die Bundesstraße 10 ein, um jetzt Ulm anzusteuern. Die Bergkette der Schwäbischen Alb, die vor ihnen lag, hob sich in der fortgeschrittenen Dämmerung drohend schwarz vom noch helleren Himmel ab.
Als sie den Stadtrand von Geislingen erreichten, durchzuckte es den Mann, als habe man ihn elektrisiert. Das Volkswagen-Symbol des Autohauses auf der linken Seite erinnerte ihn schlagartig an seinen Termin, den er für Montag ausgemacht hatte. Diese verdammte Stoßstange. Er wollte sie so schnell wie möglich loswerden.
15
Er war in seinem Leben oft auf der Flucht gewesen. Und oft war er den Weg des geringsten Widerstands gegangen. Eigentlich hatte er sich schon lange geschworen, es nicht mehr tun zu wollen. Vielfach war es ihm auch gelungen, im Betrieb, bei Konferenzen, bei Verhandlungen. Aber privat, wenns um ihn selbst ging, schien ihm die innere Stärke oftmals zu fehlen. Er hatte panische Angst davor, das Falsche zu tun. Im Berufsleben konnte eine Fehlentscheidung zwar auch fatale Folgen haben – aber wenns ihn persönlich betraf, dann war er übervorsichtig, mied so gut es ging jegliche Weichenstellung, die nur schwer rückgängig zu machen wäre. Manchmal – und das ärgerte ihn und machte ihn unzufrieden – hatte er das Gefühl, nicht Herr der eigenen Lage zu sein. Und wenn er dann handelte, dann war es garantiert eine falsche Entscheidung gewesen. Vielleicht war das, was er jetzt tat, auch wieder falsch. Wie damals, als er sich gegen Ende der Mittelschule in den Kopf gesetzt hatte, einmal Sprecher bei Radio Luxemburg zu werden. Er war dann der Empfehlung des damals beliebten Südfunkmoderators Günter Freund gefolgt, erst mal etwas ›Vernünftiges‹ zu lernen. Dies sollte der Beruf des Tontechnikers sein. In einer Laune der Selbstüberschätzung meldete er sich bei der entsprechenden Schule in Nürnberg an – und erlebte bei der Aufnahmeprüfung, die erst im November stattfand, die finstersten Stunden seines Lebens. Obwohl die Mutter darüber vielleicht gar nicht so unglücklich war, denn sonst hätte er, bis dahin als Einzelkind beschirmt und behütet, ins ferne Nürnberg ziehen müssen. Vier Monate waren seit der Schulentlassung bereits vergangen gewesen. Er hatte sie vertrödelt und in der Scheinwelt gelebt, die Tontechniker-Schule besuchen und später auf den Job des Moderators umsatteln zu können. War das wirklich so abwegig? Vielleicht hätte er es bei nötigem Engagement und entsprechendem Allgemeinwissen, das ihm damals allerdings fehlte, tatsächlich geschafft – und wäre heute Showmaster. Immerhin war seines Wissens nach auch Thomas Gottschalk, den er heute noch für den besten Fernsehunterhalter hielt, als gelernter Lehrer quer eingestiegen.
Damals, Ende 1967 war das, hatten die Eltern endlich Druck gemacht. Eine Lehrstelle musste her. Irgendeine. Und weil viele seiner Klassenkameraden Kaufmann geworden waren, was immer sich dahinter verbergen würde, entschied auch er sich mehr oder weniger zwangsläufig für diese Notlösung. Schließlich hatte er bis dahin auch die Berufsschulpflicht dezent umgangen.
Anfang Dezember wars, er würde es nie vergessen, als er 35 Kilometer von daheim entfernt, in Ulm, in das längst laufende Ausbildungsjahr einstieg. Dass diese Art von Kaufmann, zu dessen Ausbildung ihm das Arbeitsamt noch eine Lehrstelle vermittelt hatte, nichts mit im Büro sitzen, Schreibmaschine schreiben und Briefe verfassen zu tun haben würde, war ihm bereits in der ersten Stunde schmerzlich bewusst geworden. Kaufmann im Einzelhandel bedeutete: 8 Stunden stehen, durch den Laden rennen, runter ins Lager, hoch in die Buchhaltung. Dann langer Samstag – damals, vom Dezember abgesehen, zwar nur einmal im Monat und lediglich bis 18 Uhr, aber geradezu ein Schock für ihn. Für ihn, der bisher keinen Gedanken an das Berufsleben verschwendet hatte.
Gleich am ersten Tag hatte man ihm deutlich gemacht, was dieser von ihm gehasste Spruch, wonach Lehrjahre keine Herrenjahre seien, bedeutete: Zur Riege dreier weiterer Lehrbuben gehörend, hatte er die großen Schaufenster putzen müssen. Wenn jetzt jemand vorbei kam, der ihn kannte! Nicht auszudenken – er, der überall herumerzählt hatte, welch große Zukunftspläne er bei Radio Luxemburg hatte, war zum Fensterputzer degradiert. Von Radio Luxemburg war nichts geblieben – außer, dass er in diesem Laden, einem Radio- und Fernsehgeschäft, die damals beliebten Kofferradios mit dem 49-Meter-Band verkaufen durfte,jener
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