Beweislast
menschenwürdigere Behandlung hätte er sich von dieser staatlich geförderten Institution schon gewünscht. So aber fühlte er sich wie eine Nummer unter Millionen anderen.
Monika drückte ihm einen Kuss auf die Wange und drehte sich zur Tür. Sie verließen die Kirche wortlos und traten in die raue Novemberluft hinaus. Weihnachten war nicht mehr weit. Sie hatten bereits besprochen, auf gegenseitige Geschenke zu verzichten. Auch der Christbaum würde nur eine normale Fichte sein, 15 Euro das Stück – und keine Nordmanntanne mehr. Sie waren übereingekommen, mit dem Sparen schon jetzt zu beginnen und nicht erst, wenn keine Einnahmen mehr flossen.
Bis zum Monatsende, so schoss es ihm durch den Kopf, konnte er noch die KFZ-Versicherung kündigen, um sich eine günstigere zu suchen. Überhaupt würde er jetzt rigoros durchgreifen. Alles, was nicht unbedingt notwendig war, musste er streichen. Auch den DSL-Anschluss fürs Internet. Den Handyvertrag hatte er bereits gekündigt. Er würde sich eine normale Karte zulegen, die keine Monatsgebühr und keinen Mindestumsatz erforderte.
»Du grübelst schon wieder«, zog ihn Monika weiter. »Du machst dir das Leben selber schwer.« Sie überquerten einen Bachlauf und bogen danach rechts ab, um auf einem asphaltierten Weg wieder nach Donzdorf zurückzugehen. Der Nebel an den Hängen wurde dichter und quoll in das Tal herab.
»Du hast aber noch Bewerbungen laufen?«, fragte sie zaghaft, obwohl sie gerne ein anderes Thema angesprochen hätte als dieses, das seit Monaten ihren Alltag beherrschte.
»Bewerbungen«, wiederholte er verächtlich, »mein Gott, das klingt, als ob ich ein Lehrbub wär, der als Bittsteller durch das Land zieht.« Er war schon wieder aufgebracht. »Hab ich das eigentlich nötig? Weißt du, wie viele Briefe ich schon verschickt hab? Soll ichs dir sagen?« Er blieb stehen und drehte sich zu ihr. »Jetzt sind es beinahe schon sechzig. Sechzig – vom internationalen Bauunternehmen bis zur kleinen Klitsche auf der Alb. Ich wär bereit, täglich hundert Kilometer zu pendeln, das weißt du. Und was ist? Nichts.«
Ketschmar ging weiter, während Monika seine rechte Hand fasste und sie festhielt.
»Unsere schöne Regierung verlangt, dass man auch weite Anfahrtswege in Kauf nehmen soll – und kürzt im Gegenzug die Pendlerpauschale und fordert längere Arbeitszeiten.« Er machte mit der anderen Hand eine abwertende Geste. »Längere Arbeitszeiten und längere Fahrzeiten. Und weniger verdienen. Und soll ich dir was sagen?« Er sog die feucht-kühle Luft tief in sich ein. Es tat ihm gut. »Die Rot-Grünen haben während ihrer Regierungszeit den Unternehmern ein Zugeständnis nach dem anderen gemacht – doch gebracht hats dem normalen Volk nichts. Ganz im Gegenteil: Es hat bei den Großen nur neue Habgier geweckt. Sonst gar nichts. Und jetzt gehts gerade so weiter.«
»Aber mit Schimpfen allein wirst du die Welt nicht verändern«, wandte Monika ein. Ihre langen schwarzen Haare kringelten sich in der feuchten Luft.
»Das brauchst du mir nicht dauernd zu sagen«, gab er unwirsch zurück, »aber was soll ich denn tun? Hab doch schon mit unseren Abgeordneten diskutiert, aber mehr als aalglatte Antworten kriegst du nicht. Das ganze System ist marode, verstehst du? Die doktern nur rum, gehen den Weg des geringsten Widerstands, verkaufen jede dilettantische Flickschusterei als enormen Fortschritt und labern uns bei den elendigen Talkshows jeden Abend die Ohren voll. Ich mags nicht mehr hören.« Sein Schritt wurde schneller.
»Aber was willst du allein dagegen unternehmen?«
»Irgendwann, Monika«, sagte er mit drohendem Unterton, »irgendwann brennt einem halt mal die Sicherung durch. Und ich sag dir: Bei mir ist die Schmerzgrenze erreicht.«
Seine Frau erschrak. So deutlich hatte er es noch nie ausgesprochen.
14
Jetzt war auch Mike Linkohr eingetroffen. Der junge Kriminalist, der sich zwar einen traumhaften Abend mit Juliane vorgestellt hatte, zumal sie ihren Schichtdienst als Krankenschwester erst wieder am Sonntagnachmittag würde antreten müssen, war trotzdem mit Begeisterung zu dem Tatort gefahren. Dass er so schnell wieder mit dem berühmten Ermittler Häberle zusammenarbeiten konnte, hätte er sich vor einigen Monaten noch nicht träumen lassen. Sie waren in den vergangenen Jahren zu einem ›Dreamteam‹ geworden, wie manche Kollegen bereits ein bisschen neidisch witzelten. Dort, wo der Zufahrtsweg abbog, der sich nach rund 200 Metern links zum
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