Beweislast
uns nur darum, das persönliche Umfeld all unserer Verdächtigen zu ergründen. Allerdings …« Er überlegte, ob und wie er es sagen sollte, »… es gibt in unserem Fall noch eine weitere Komponente.«
Manuel sah zu seinem Schwiegervater, der sich aber nur auf seine Finger zu konzentrieren schien. »Eine weitere Komponente, sagen Sie?«
»Naja«, entgegnete Häberle, »der Herr Grauer, unser Opfer also, hat Drohbriefe gekriegt. Vor vier Monaten hat es angefangen.«
Manuel blickte instinktiv zu Ketschmar, doch der wirkte seltsam abwesend.
Der Anwalt hatte sofort kapiert. »Und diese Drohbriefe wollen Sie jetzt meinem Schwiegervater zuordnen?«
Häberle schüttelte kräftig den Kopf. »Von zuordnen kann keine Rede sein. Wir klopfen alle Möglichkeiten ab, woher sie gekommen sein könnten. Ihr Herr Schwiegervater könnte theoretisch einer der Absender gewesen sein. Mehr nicht.«
Ketschmar spürte, wie alles Blut aus seinen Gliedern entwich. Zum ersten Mal während des Gesprächs blickte er auf.
»Ich hab doch keine Chance mehr«, sagte er leise, »Manuel, für die bin ich schon längst zum Täter abgestempelt.«
Häberle sah ihm in die Augen und versuchte, ihn zu beruhigen: »Unsere Aufgabe ist es nicht nur, einen Schuldigen zu finden, sondern Verdächtige auch zu entlasten. Wenn Sie uns helfen, geht alles umso schneller.«
Manuel stand seinem Schwiegervater zur Seite: »Helfen ja – aber seit gestern sieht es so aus, als müsse er sich verteidigen.«
»Aus unserer Sicht sieht es nicht so aus«, erklärte der Chefermittler, »aber vielleicht sieht es Herr Ketschmar so … vielleicht hat er Anlass, sich zu verteidigen.«
Der Anwalt war für einen Moment irritiert und sprachlos.
32
Mehr als den Hinweis, dass weiter nach allen Richtungen ermittelt werde, hatte Manuel Traknow dem Kommissar nicht abringen können. Ketschmar war schließlich mit weichen Knien hinausgegangen, hatte dem Kommissar und seinem Assistenten die feuchtkalte Hand zum Abschied gereicht und mit seinem Schwiegersohn den Gebäudekomplex der Polizeidirektion verlassen.
Häberle und Linkohr blieben nachdenklich zurück. »Der Mann ist doch psychisch fertig«, meinte der Jungkriminalist schließlich. »Der hat so gut wie nichts gesprochen.«
»Seh ich auch so«, erklärte Häberle. »Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder ist er wirklich durch eine Verkettung unglücklicher Umstände in die Sache reingeraten – oder er hängt ganz dick drin.«
»Und für welche Variante entscheiden Sie sich?« Linkohr war gespannt, wohl wissend, dass der erfahrene Ermittler lieber im Geheimen kombinierte und seine Kollegen zunächst darüber nicht informierte. Dies war ein kluger Schachzug, denn würde er zu einem frühen Zeitpunkt seine Einschätzung preisgeben, bestünde die Gefahr, dass die Nachforschungen fortan nur noch in diese eine Richtung gingen – und es würden möglicherweise andere Gesichtspunkte übersehen.
»Warten wirs ab«, erwiderte Häberle deshalb auch jetzt. »Wir haben noch verschiedene Trümpfe im Ärmel. Außerdem erweckt der Ketschmar nicht gerade den Eindruck, als ob er alle Brücken abbrechen und über Nacht verschwinden könnte.«
Die beiden Kriminalisten standen sich schweigend und nachdenklich gegenüber, als die angelehnte Tür aufgerissen wurde und Kripochef Helmut Bruhn erschien. Wie immer tauchte er unversehens auf, wortlos, grußlos, energisch und mit einer Laune, die von Mal zu Mal schlechter zu werden schien. »Himmelherrgottnochmal«, wetterte er los, »heut ist Mittwoch und nichts geht voran. Ich krieg keine Berichte zu Gesicht, ich find im Rechner keine Protokolle. Und Sie stehn auch bloß rum.«
Häberle war auf so etwas gefasst gewesen. »Wir sind gerade dabei, unsere Eindrücke zu sondieren.«
»Sie sollen nicht sondieren, sondern niederschreiben, was Sie ermittelt haben«, befahl Bruhn militärisch knapp. »Ihnen scheint entgangen zu sein, dass Ermittlungserkenntnisse allen Beteiligten zugänglich zu machen sind.«
Fehlte nur noch, dass er dafür irgendeine Dienstanweisung auswendig kannte, samt Paragrafen und Absatznummer soundso, dachte Häberle, während sich Linkohr zu seinen Akten auf dem Schreibtisch verdrückte und geschäftig darin blätterte.
»Manchmal gibt es Wichtigeres als Schreibkram zu erledigen«, blieb Häberle standhaft und wusste, dass er damit einen wunden Punkt des Chefs traf.
»Von Ihnen hätt ich erwartet, dass Sie wissen, dass nur das Geschriebene gilt«, wetterte er
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