Beweislast
– auch er, der Anwalt, der vieles gewohnt war. Daran musste er jetzt denken, als der elektrische Öffner summte und er den kleinen Vorplatz betreten konnte. Dort ließ sich ein Vollzugsbeamter pflichtgemäß seinen Ausweis zeigen.
Es öffnete sich eine zweite Tür und Traknow gelangte in das Innere der Haftanstalt, wo ihn ein muskelstarker Kleiderschrank in grüner Uniform in Empfang nahm. Wer dem in die Hände fiel, dachte der Anwalt, für den gab es kein Entrinnen mehr. Kaltes Neonlicht erhellte den breiten Flur, in den weitere lange Gänge mündeten. Irgendwo klirrten Schlüssel, hallten Schritte auf Steinböden. Traknow wurde in den fensterlosen Besucherraum geführt, in dem ein alter, zerkratzter Holztisch und drei unbequeme Stühle standen. Die Wände waren mal schneeweiß gewesen, wiesen jetzt aber deutliche Verschmutzungen auf.
Er legte seinen Aktenkoffer auf den Tisch und ließ die beiden Schlösser aufschnappen. Er entnahm einige prall gefüllte Schnellhefter und breitete die Schriftsätze vor sich aus. Während er darauf wartete, dass ihm sein Schwiegervater vorgeführt wurde, überflog er noch einmal die wichtigsten Passagen aus den polizeilichen Vernehmungsprotokollen. Seit er sie erhalten hatte, war er sie mehrere Male durchgegangen, ohnejedoch seine Frau Chrissi damit zu beunruhigen. Denn was die Kriminalisten festgehalten hatten, las sich in der Tat nicht gut. Gerhard war bisher offenbar nicht ehrlich gewesen. Es gab einige Merkwürdigkeiten.
Endlich hörte er Schritte näher kommen. Ketschmar betrat wortlos den Raum und ließ die Tür hinter sich zufallen. Der junge Mann erschrak beim Blick in das Gesicht seines Schwiegervaters. Es war eingefallen, fahl und faltig. Sie umarmten sich und er spürte, dass der Gefangene zitterte.
Er bat ihn, sich ihm gegenüber zu setzen.
»Ich hab alle Protokolle gekriegt«, kam Manuel schließlich zur Sache. »Wir sollten sie Stück für Stück durchgehen.« Er sah in die glasigen Augen eines gebrochenen Mannes, der einst ein Energiebündel gewesen war. Vier Wochen Untersuchungshaft hatten ihn gezeichnet und zu einem Wrack gemacht. Er würde seiner Schwiegermutter, die letzte Woche hier gewesen war, nicht davon berichten dürfen. Nicht jetzt in der Adventszeit.
»Ich möchte dich bitten, mir alles zu erzählen«, sagte Manuel leise, »auch wenns schwer fällt und unangenehm ist.«
»Du meinst doch nicht auch, dass ich …?« Die Stimme war schwach. Ketschmar wagte das Unfassbare nicht auszusprechen. Er wollte es nicht mal in den Mund nehmen.
»Ich mein gar nichts«, lächelte Traknow aufmunternd, »entscheidend ist, was der Staatsanwalt meint.«
Ketschmar sank resigniert in sich zusammen.
Der Staatsanwalt. Mordanklage hatte er erhoben. Mord aus niedrigen Beweggründen. Rache, Vergeltung. Unbändiger Zorn. Ja, mit dem Zorn hatte er recht, der Herr Staatsanwalt. Zorn und Wut auf diejenigen, die den Sozialstaat demontiert hatten. Aber was nutzte dies jetzt noch? Jetzt, wo alles verloren war. Die Familie, die Zukunft, die Ehre. Alles. Sollten sie ihn doch vollends bis ans Ende seiner Tage einsperren. Das hatte er vor zwei Wochen auch dem Psychiater gesagt. Er wollte nicht mehr. Vielleicht würden sie ihn zu 10 Jahren verurteilen, im günstigsten Fall. Und dann? Nach zwei Dritteln wäre er 62. Und ein entlassener Zuchthäusler. Er würde sich daheim in Donzdorf sowieso nie mehr blicken lassen können. Und wenn Manuel ehrlich war, verdammt noch mal, er sollte ehrlich sein, dann musste er zugeben, dass ein Freispruch absolut illusorisch war.
Vergiss es. Warum schrie er es nicht einfach hinaus. Ja, ich wars. Ja, ich hab diese Sau vom Arbeitsamt erdrosselt. Hat es doch gar nicht anders verdient. Dieser arrogante Bürokrat. Ach, hätte er doch gleich ein ganzes Dutzend aus dem Verkehr gezogen. Diese und die kaltschnäuzigen Managertypen. Er musste plötzlich an den Kerl denken, den er noch vor seinem Besuch im Arbeitsamt aufgesucht hatte – bei dieser Baufirma. Ja, er wollte es hinausschreien: Ihr ruiniert dieses Land vollends. Ihr seid es, die wie die Maden im Speck hausen und es löchern, bis es vollends in sich zusammenbricht. Was hat so ein selbstherrlicher Geschäftsführer denn für ein Interesse, seinen Laden über Jahrzehnte hinweg in die Zukunft zu führen? Es zählt nur das Heute und Jetzt, die Börsenkurse, das globale Monopoly-Spiel, der eigene Reibach. Am besten mit 40 eine Abfindung für allseits anerkannte Unfähigkeit kassiert – und ab in den
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