Bewusstlos
erschrocken.
Raffael sah auf die Uhr. Es war jetzt kurz nach sechs. Wunderbar. Genug Zeit, um es noch so richtig krachen zu lassen. Aber wahrscheinlich war dieser Schlaffsack Gianni schon fertig mit der Welt und wollte zurück zur lieben Mami oder nach Hause in die Heia. Im Grunde konnte man mit Gianni nichts, aber auch gar nichts Vernünftiges anfangen.
Er trat erneut gegen ein Auto, und diesmal gab es eine Beule.
»Was hast du denn?«, zischte Gianni nervös. »Wenn du so weitermachst, kriegen wir Probleme. Oder willst du angezeigt werden? Wegen Sachbeschädigung?«
Wenn Raffael etwas überhaupt nicht ausstehen konnte, dann moralische Zurechtweisungen dieser Art. Seit er sechzehn war, wollte er so etwas nicht mehr hören.
»Halt die Fresse«, tönte er, und Gianni überlegte einen Moment, warum er nicht einfach umdrehte und abhaute. Sollte Raffael doch sehen, wie er nach Hause kam.
Aber in diesem Moment stieß Raffael einen unterdrückten Schrei aus.
»Hey!«, jauchzte er. »Das ist ja geil! Wie seid ihr Italiener denn drauf? Ich werd nicht mehr! So ein hammermäßiges Waffengeschäft hab ich ja noch nie gesehen! Noch nicht mal in Berlin.«
Er blieb vor einem der vier Schaufenster stehen und konnte sich an den ausgestellten Messern nicht sattsehen. Er stierte geradezu auf die ausgestellte Ware, und seine Laune änderte sich schlagartig.
»Gianni!«, jubelte er. »Weißt du, was das Schärfste ist? Ich hab gerade mein Messer verloren. So ’n Taschenmesser. Irre scharf, mit einer mörderharten Klinge. Die bricht nicht ab, da kannst du fünfzigmal zustechen. Ohne Messer in der Tasche fühl ich mich wie nackt. Da bin ich ganz hilflos. Kennst du das?«
»Nein«, hauchte Gianni. »Ich hatte noch nie ein Taschenmesser.«
»Echt nicht?« Raffael lachte. »Und was ist, wenn du dir ’nen Apfel schneiden willst oder ein Paket aufschlitzen musst oder wenn dich jemand angreift? Da brauchst du doch ein Messer!«
»Ich hab noch nie eins gehabt und noch nie eins gebraucht«, flüsterte Gianni und kam sich vor wie ein bescheuertes Landei, das irgendwie nicht von dieser Welt war.
Raffael seufzte, und für Gianni klang es abfällig.
»Egal. Komm, wir gehen rein. Mein Messer ist weg, das nervt mich tierisch, aber jetzt kann ich mir hier ein neues kaufen. Super! Komm!«
Sie gingen in den Laden.
Der Verkäufer war ein gedrungener Mann mit hohen Geheimratsecken und einem überaus herzlichen Lächeln. Er trug eine Nickelbrille und eine karierte Weste über seinem weißen Hemd und sah eher aus wie ein Dorfschullehrer als wie ein Waffenverkäufer.
Er begrüßte sie freundlich.
Raffael nahm ihn kaum wahr, reagierte überhaupt nicht auf die Begrüßung und raunte Gianni zu: »Sag ihm, dass ich ein Springmesser suche.«
Gianni hatte keine Ahnung, was ein Springmesser war, aber er versuchte zu übersetzen.
Der Verkäufer nickte und führte sie zu einer Vitrine, die er aufschloss.
»Prego«, sagte er.
Raffaels Augen leuchteten. Vorsichtig nahm er ein Messer in die Hand. Es war eins der teuersten und dem, das er verloren hatte, ziemlich ähnlich.
»So«, flüsterte er. »So ungefähr war meins. Nicht ganz so, aber doch so ungefähr.«
Gianni beobachtete fassungslos, wie Raffael das Messer in seiner Hand wog, wie er es sanft streichelte, als sei es die Hand einer Geliebten, wie er es auf Knopfdruck aus der Scheide schnellen ließ, es in die Luft warf und wie ein Artist im Zirkus wieder auffing, nachdem es sich in der Luft ein paarmal gedreht hatte. So etwas musste er schon tausendmal geübt haben.
Dann drehte er es zwischen den einzelnen Fingern wie ein Tambourmajor seinen Stock.
Das Testen des Messers war ein einziges Liebesspiel.
Schließlich begann er in der Luft zuzustechen: von oben nach unten, von unten nach oben, von rechts nach links, von links nach rechts, von hinten nach vorn und von vorn nach hinten.
Gianni konnte kaum hinsehen, so schrecklich fand er das, was Raffael tat, und er genierte sich.
Aber Raffael war zufrieden. Das Messer lag gut in der Hand und schien für alles geeignet zu sein.
Dann klappte er es wieder ein, schob es in seine Hosentasche, ging ein paar Schritte, fuhr mit der Hand über die Stelle, wo das Messer saß, und es war fast eine erotische Bewegung. Er atmete, krümmte und streckte sich, um zu prüfen, ob das Messer in der Lage war, mit ihm zu verwachsen und zu verschmelzen.
Es war abartig.
Gianni schämte sich für seinen Begleiter. Vor ein paar Stunden noch hatte er »Freund«
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