Bewusstlos
Fünfhundertern, Hundertern und Fünfzigern. Zusammengehalten mit Gummis. In der Eile konnte er nicht überblicken, wie viele Packen es waren, und er hatte auch keine Ahnung, wie viele Scheine jeweils in einem Päckchen zusammengefasst waren, aber es waren Unmengen. Ein kleines Vermögen.
Schnell schloss er den Deckel wieder und suchte weiter nach der Jacke.
Lilo hatte von alldem nichts mitbekommen, weil sie einen Teil ihres Orangensaftes über ihre Bettdecke verschüttet hatte und hektisch mit der Serviette daran herumrieb.
Schließlich fand er die Jacke unter einem Berg von Strumpfhosen. Lilo musste sie schon ewig nicht mehr getragen haben.
Als er sie ihr brachte und ihr dabei half, sie ihr über die Arme zu ziehen, war ihm schwindlig.
Was er gesehen hatte, tanzte vor seinen Augen.
Er hatte Lilo für eine arme alte Dame gehalten, die in einer heruntergekommenen, verrotteten Wohnung lebte, mit ihrer winzigen Rente kaum über die Runden kam und dringend die Miete eines Untermieters brauchte – aber so war es nicht. Sie war eine wohlhabende Frau, die ihr Geld im Kleiderschrank hortete. Und auf einen Untermieter war sie ganz sicher nicht angewiesen.
»Brauchst du noch irgendwas?«, fragte er Lilo.
»Nein, im Moment nicht. Danke. Wenn noch was ist, rufe ich.«
Raffael nickte. »Ich geh jetzt duschen. Und dann hau ich ’ne Weile ab. Sag mir Bescheid, wenn ich dir was mitbringen soll.«
»Lieb von dir. Danke.«
Raffael ging aus dem Zimmer. Noch aß Lilo, und wenn sie fertig war, konnte sie das Tablett einfach ans Fußende des Bettes schieben. Bevor er ging, würde er noch einmal nach ihr sehen und ihr aus dem Wohnzimmer ein paar Zeitschriften bringen.
Als Raffael anderthalb Stunden später das Haus verließ, war für Lilo gesorgt.
Er musste seinen zufälligen Fund erst einmal verdauen und ging in Käthes kleine Kneipe . Mit einigen Bieren im Schädel war es sicher leichter, über die ganze Sache nachzudenken.
19
Lilo konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal krank gewesen war. Als Kind, als sie Masern, Mumps und Scharlach gehabt hatte, und als man ihr die Mandeln herausgenommen hatte. Aber ansonsten war immer sie diejenige gewesen, die andere und später dann Wilhelm gepflegt hatte. Wenn er eine Grippe oder eine Erkältung gehabt hatte, als sein Leistenbruch operiert worden war, und dann zuletzt, als er gar nicht mehr wusste, ob er krank oder gesund war und nur noch vor sich hin vegetierte.
Zum ersten Mal war es anders. Jetzt kümmerte sich jemand um sie . Ein herrliches Gefühl. Raffael umsorgte und pflegte sie – weil sie ihm nicht gleichgültig war.
Sie konnte sich schon wieder auf die Seite drehen und bekam ihre Armbanduhr zu fassen, die auf dem Nachttisch lag. Es war jetzt halb elf. Der halbe Vormittag war um. So lange hatte sie ja schon seit fünfzig Jahren nicht mehr geschlafen.
Es war eine große Anstrengung, aber sie schaffte es, sich mit dem Arm abzustützen und aufzurichten.
Einen Moment blieb sie sitzen und gab ihrem Kreislauf eine Chance, sich wieder einzupendeln und zur Ruhe zu kommen, denn vor ihren Augen drehte sich alles. Es war nicht gut für alte Leute, zu lange im Bett zu liegen.
»Wenn du morgens nicht mehr aufstehst, bist du tot«, hatte ihre Großmutter immer gesagt. »Dann hast du dich aufgegeben, dann ist es vorbei.« Und das hatte sie so drastisch auch gemeint. Selbst bei einer Grippe mit hohem Fieber, rasenden Kopf- und Gliederschmerzen war sie aufgestanden und zum Melken in den Stall gegangen. Nach der Geburt von jedem ihrer zwölf Kinder gönnte sie sich drei Stunden Erholung. Dann stand sie auf und ging wieder an die Arbeit.
Lilo wollte raus. Wollte ins Bad, auf die Toilette gehen, Zähne putzen und sich dann, wenn möglich, in der Küche einen Kaffee oder Tee kochen. Sie hatte den starken Drang, wieder zur Normalität zurückzukehren.
Wie lange hatte sie im Bett gelegen? Einen Tag oder zwei Tage? Sie konnte sich nicht mehr erinnern. Aber sie musste doch auf der Toilette gewesen sein? Natürlich, jetzt wusste sie es wieder. Sie war gestern Nachmittag langsam und vorsichtig an Raffaels Arm über den Flur geschlurft, und er hatte sie bis zur Toilette geführt, draußen gewartet und sie dann wieder zurückgebracht.
Raffael, ihr Schutzengel, ihre helfende Hand.
Ihr wurde warm ums Herz. Es war gut, dass er da war.
Sie schlüpfte in ihre Hausschuhe und schob sich dann langsam vorwärts bis zur Tür. Es ging nicht schnell, aber es ging. Momentan war ihr Rücken
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