Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Beziehungswaise Roman

Beziehungswaise Roman

Titel: Beziehungswaise Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Birbaek
Vom Netzwerk:
nicht erkenne, aber die Frequenz der unverwechselbarenTrompete geht durch die Wohnung und hellt den Raum auf. Far liegt im Bett. Er war nicht mehr bei Bewusstsein, hat sich nicht bewegt, nur seine Brust hebt sich schwer unter seinen mühsamen Atemzügen. Wir wissen nicht, was er spürt, wir wissen nicht, ob er etwas spürt, wir wissen nicht, ob er wieder aufwacht und was dann sein wird. Alles, was wir wissen, ist, dass wir ihn lieben und er hilflos ist. Wir sitzen seit Stunden hier, trinken Käffchen und lassen ihn die Geräusche hören, die er liebt.
    Nachdem Ole und Helle weg waren, ging ich in ein Internetcafé. Nach zweistündigem Surfen wusste ich, dass ich noch Tage oder Wochen damit würde verbringen können, das Für und Wider mithilfe der Meinung anderer abzuwägen. Ich suchte nach irgendetwas, doch Fachwissen berührte mich nicht. Die Meinungen waren wie immer vielfältig und meine eigene zu stark, um sie durch fremde Menschen im Internet beeinflussen zu lassen. Ich suchte nach etwas ... Warmem. Etwas ... Richtigem. Ich wusste nicht, was es war, bis ich es fand. Ein kurzer Text über Lebens- und Sterbequalität. Manche haben bei Ersterem Glück. Die Wenigsten haben es bei Letzterem. Seltsam. Wir machen ein Leben lang die merkwürdigsten Dinge, um eine hohe Lebensqualität zu erreichen. Und am Ende verrecken wir irgendwo, weil wir uns weigern, darüber nachzudenken, wie das Leben enden soll. Wir ignorieren den Tod. Doch bisher hat ihn keiner überlebt. Ich habe auch nie darüber nachgedacht, aber jetzt prasseln die Fragen auf mich ein. Warum gibt es mehr Geburtshelfer als Sterbehelfer? Wie will ich selbst sterben? Will ich von Maschinen am Leben gehalten werden? Spende ich meine Organe? Wieso habe ich nie mit Far darüber geredet?
    Da liegt er. Bleich. Sein Gesicht verzerrt. Hilflos. Lustlos. Zum ersten Mal seit mehr als siebzig Jahren wieder auf Hilfe angewiesen. Ja, ich bin sein Sohn. Er hat alles fürmich getan. Zeit, etwas für ihn zu tun. Ich fühle mich nicht gut, aber ich weiß, dass es richtig ist. Kein Gegenargument kann mehr in mir auslösen als das Gefühl, ihn nicht im Stich zu lassen.
    Ich löse meinen Blick von seinem verzerrten Gesicht und wische mir über die Wangen. Ebba nickt mir zu. Ich schaue Sune an. Sie hält Fars Hand, wiegt sich vor und zurück und schaut zu Boden.
    »Sune.«
    Sie nickt, ohne den Blick zu heben. Ich schaue Ebba Hilfe suchend an.
    »Sune«, sagt sie.
    Sunes Schultern heben sich. Dann schaut sie hoch und nickt kläglich. Sie beugt sich vor.
    »Tschüss, Far, mein Papa.«
    Ihre Stimme zittert. Ich streichele ihren Rücken, beuge mich vor und küsse seine Wange.
    »Far«, flüstere ich, »danke. Ich liebe dich. Gute Reise.« Ebba beugt sich über ihn und küsst ihn auf den Mund. »Auf Wiedersehen, mein lieber Freund.«
    Ich klappe die Bettdecke beiseite und lege seinen linken Fuß frei. Ich steche vorsichtig mit der Kanüle in eine Ader an seinem Fuß und schaue Ebba an. Ihre Augen sind als einzige trocken, als sie über den Perfusor die Notration auslöst, während ich den Kolben der Spritze langsam durchdrücke. Die Maschine pumpt weitere hundert Milligramm Morphium in Fars Blutbahn, gleichzeitig spritze ich ihm die Ration aus der Notpackung. Ich ziehe die Nadel raus, massiere den Einstich, klappe die Bettdecke wieder zurück und packe die Spritze weg. Dann warten wir.
    Einatmen.
    Ausatmen.
    Sunes Mund beginnt zu zittern. Tränen rinnen ihr über dieWangen und verlieren sich in ihrem Ausschnitt. Sie legt ihr Gesicht auf Fars Hand, und ihre Tränen laufen ihm über die Haut. Ebba streichelt seine andere Hand. Ihre Atemzüge so mühsam wie seine.
    »Hab keine Angst«, flüstert sie. »Sune, Lasse und Ebba, wir sind alle bei dir.«
    Sie zählt unsere Namen immer wieder auf und sagt, dass alles gut wird, dass sie ihn sehr liebt und er sie so glücklich gemacht hat. Seine Brust hebt sich und senkt sich schwach. Bis ein Atemzug ausbleibt. Sune richtet sich auf und mustert ihn entsetzt, ihr Gesicht ebenfalls zu einer Grimasse verzerrt ...
    Drei Menschen halten die Luft an.
    Es folgt ein zäher, schwacher Atemzug, als er sich mühsam Luft in die Lunge zieht.
    Drei Menschen atmen auf.
    Einatmen.
    Ausatmen.
    Im Nebenraum verspricht Louis Armstrong, dass die ganze Welt mit dir lächelt, wenn du lächelst. Ich halte Fars Hand und kämpfe gegen die Tränen. Was fühlt er jetzt? Was sieht er? Nimmt er uns wahr? Schaut er auf uns runter? Ist er erleichtert? Hat er Angst? Wer wird für

Weitere Kostenlose Bücher