Beziehungswaise Roman
langes, schönes Leben. Aber welche Perspektiven hat eine Vierundachtzigjährige, deren Lebenspartner gestorben ist? Far hat viel Raum hinterlassen. Ich muss einen Teil davon füllen.
Die Beerdigung war schön. Der Himmel klar, die Kapelle voll und der Priester, auf Ebbas Wunsch hin, still. Die Großfamilie kam zusammen. Ich kannte viele nicht, doch die, die mich nicht kannten, erkannten mich. Es wurdenErinnerungen aufgewärmt, und ich bekam mehr Einladungen, als ich in den nächsten Jahren abbesuchen kann. Dazu Einladungen von Arbeitskollegen, Nachbarn, Leuten, denen er mal die Wohnung gestrichen hat, Eltern, deren Kind er gesittet hat. Far war beliebt. Er hatte Fans. Noch eine Sache, die ich mir bei ihm abschauen kann.
Als wir zum Grab gingen, riss der Himmel auf, und Sonnenstrahlen badeten sein Grab in einem besonderen Licht. Aber ich glaube nicht an so was. Am Grab sollte ich etwas sagen. Aber was kann man da schon sagen. Sune wollte auch nicht, also übernahm Ebba das. Sie dankte fürs Erscheinen, vor allem für Fars in ihrem Leben, sie wünschte uns allen dasselbe Glück, das sie hatte. Das war alles, bis wir in das Lokal weiterzogen, das Sune für den Leichenschmaus reserviert hatte. Eine alte Kneipe mit Saal direkt neben dem Friedhof. Hier hatten schon Tausende Angehörige auf die Toten gesoffen, und wir schlossen uns an.
Runde um Runde wurde auf Far angestoßen, alte Geschichten wurden aufgewärmt. Dabei erfuhr ich Dinge, die von einem Fremden stammen könnten. Im Zweiten Weltkrieg wurden Far und sein Jugendfreund Åge von den Nazis zum Aufräumen nach Sabotageakten eingeteilt. Weil die Bevölkerung nicht wissen sollte, dass es Widerstand gab, wurde Stillschweigen gefordert und Fehlverhalten bestraft. Åge und Far machten heimlich Fotos und leiteten diese weiter, um den Widerstand zu dokumentieren. Nach dem Krieg hatten sie Ausstellungen. Ich schaute Sune fragend an. Sie schaute genauso ratlos zurück. Himmel, wir glauben alles von unseren Eltern zu wissen, weil man sich so lange kennt, aber sie hatten ein Leben, bevor wir auf die Welt kamen. Wenn wir zur Welt kommen, ist vieles bereits ein so alter Hut, dass nicht mehr darüber geredet wird. Wer weiß, was wir sonst so alles nicht wissen. Immer mehr Geschichten kamen ans Licht, der Alkoholmachte uns locker. Ich weinte mit Menschen, die ich seit meiner Kindheit nicht mehr gesehen hatte, und die ganze Zeit hielt ich Tess’ Hand. Sie kam am Vorabend. Arne kam mit Frauke mit dem Zug. Er hielt sich immer neben mir, als könnte er den Tod durch seine reine Anwesenheit einschüchtern. Wer weiß.
Neben mir räkelt sich Tess. Mit jeder Bewegung dringt der Geruch verschlafener Wärme unter der Decke hervor. Als sie sich umdreht und die Decke verrutscht, schaue ich einerseits auf den nackten Oberkörper einer schönen Frau, andererseits auf meine Freundin, die vor meinen Augen aufwacht. Das eine ist Erinnerung, das andere ist ein Zustand. Völlig unwirklich, dass wir vor ein paar Tagen fast miteinander geschlafen hätten.
»Guten Morgen.«
Ihre warmen Arme schließen sich um meinen Nacken und ziehen mich an sie.
»Guten Morgen«, sagt sie und seufzt. »Ich liebe es, mit dir aufzuwachen ...«
»Kannst du gleich noch mal«, sage ich und rieche ihren so vertrauten Mundgeruch. »Ich bin bald wieder da.«
Sie stemmt sich kurz auf die Ellbogen und klatscht ihren Wuschelkopf auf meine Brust.
»Ich komme mit.«
»Du willst an deinem freien Tag um sechs Uhr aufstehen?«
Sie nickt auf meiner Brust.
»Ich lasse dich nicht mehr aus den Augen.«
Ich lächele. Ein bisschen spät. Aber schön. Morgen fahre ich wieder nach Dänemark und bleibe dort erst mal bei Ebba. Ich weiß nicht, wie lange. So lange wie nötig. Morgen endet auch Tess’ Sonderurlaub. Sie muss dann nach Wolfsburg zurück und sich vorbereiten, denn in einem Monat geht es nach China. China. Man gewöhnt sich ja analles, also besteht wohl auch die Möglichkeit, dass ich mich daran gewöhne.
»Arbeitslos, Reisephobie und notgeil.«
Ihr Kopf bewegt sich ein bisschen. Sie drückt einen Kuss auf meine Brust.
»Hm?«
»Meine Traumfrau. Ich hab mir überlegt, wie sie sein muss, damit die Beziehung funktionieren kann.«
Ich spüre, wie sie auf meiner Brust lächelt.
»Du brauchst keine Traumfrau.«
»Ach so. Und warum nicht?«
Sie wendet mir ihr Gesicht zu und zieht sich eine Haarsträhne, die sich in ihrem Mundwinkel eingenistet hat, heraus.
»Du hast schon eine.«
Ich schaue sie an. Sie
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