Beziehungswaise Roman
fehlt mittlerweile die Kraft, um die einfachsten Sachen zu heben. Danach verputzen wir einen Braten mit einer von diesen dicken, würzigen Soßen, die scheinbar nur Dänen lieben, dabei fragen sie mich über die Amerikareise aus: Umgangsformen, Allgemeinbildung, Ernährung, Umwelt. Ich berichte von Alleinerziehenden, die drei Jobs machen und sich dennoch verschulden, um über die Runden zu kommen, von Armen, die vor verschlossenen Krankenhaustüren stehen, von Menschen, die bewaffnet shoppen gehen, von Medien, die nach Nine Eleven jahrelang Propagandaorgane der Regierung waren und sich nur langsam wieder fangen, und von einem furchtbaren Patriotismus, der politisch ebenso sehr missbraucht wird wie das Christentum. Ich berichte von einem verwirrenden, fanatischen Glauben an Kapitalismus, obwohl immer mehr Amerikaner unter der Armutsgrenze leben, von einem Kran, der extra hergestellt wurde, um verfettete Menschen aus ihren Wohnungsfenstern zu heben, weil sie nicht mehr durch die Türen passen. Während ichrede, höre ich mir selbst zu, und, Grundgütiger, ich klinge wie die Abrissbirne von Nostradamus. Ein solch niederschmetterndes Resümee nach der schönsten Reise meines Lebens? Was ist los?
Nach einem Rundblick in die Gesichter weiß ich es: Es ist die Enttäuschung des Liebenden. Alle hier am Tisch haben Amerika einmal geliebt, die Musik, die Filme, den Traum von der Freiheit. Trotz vieler Verfehlungen blieb Amerika lange Zeit the good guy, zu dem man, wenn schon nicht auf-, dann zumindest rüberschaute. Zwei Legislaturperioden von Bush haben ausgereicht, um das zu schaffen, was nicht einmal die Außenpolitik der Nachkriegszeit schaffte – Amerikas Ruf als Vorzeigedemokratie zu zerstören. Sogar ein Weltruf ist fragil.
Zum Dessert gibt es Vanilleeis mit warmer Himbeersoße, doch es hat allen die Sprache verschlagen. Wir löffeln schweigend himmlisches Himbeereis. Über uns eine Wolke der Ernüchterung. Ich fange noch mal an und berichte von der unglaublichen Schönheit des Landes und den vielen Begegnungen mit großartigen Menschen. Ich berichte von Hilfsbereitschaft und grenzenlosem Optimismus, von sagenhaften Gospelkonzerten und einem Obdachlosen, der uns dreißig Minuten lang begleitete, um uns zu versichern, dass nicht alle Amerikaner so sind wie Bush und seine Kumpels, ich erzähle von einem Polizisten, der vor uns herfuhr, um uns den Weg zu einem guten Hotel zu zeigen. Als ich verstumme, bleibt dennoch ein düsterer Schatten zurück, das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt und es kein gutes Ende nehmen wird.
Eine unangenehme Pause entsteht. Wir löffeln weiter Nachtisch. Die Pause wird immer düsterer. Bis Far eine Geschichte über seinen ehemaligen Arbeitskollegen Roland auspackt, mit dem er zwanzig Jahre im größten Kaufhaus Dänemarks zusammenarbeitete. Roland hatteeine ausgeprägte Rot-Grün-Schwäche, was als Maler eine prima Sache ist, aber da er seine rechte Hand bei einem Arbeitsunfall verloren hatte, war er unkündbar. Die beiden freundeten sich an und wurden ein perfektes Team. Far mixte Rolands Farben, und Roland ließ keine Gelegenheit aus, um ihnen Vorteile zu verschaffen. Unter seinen Prothesen hatte er eine Hand, die fast echt aussah. Für den Job benutzte er aber meistens die Käpten-Hook-Klaue. Daran konnte man prima Farbdosen aufhängen und mehr Trinkgeld herausschlagen. Doch ihre Haupteinnahmequelle war der Aufenthaltsraum der Handwerker, der in einen Heizungsraum integriert war – und für den Roland gerne mal seine Sonntagshand anzog. Wenn neue Mitarbeiter kamen, sorgten die beiden dafür, dass sie die erste Pause zusammen verbrachten. Sie setzten sich neben den Neuen und begannen sich zu streiten. Das schaff ich. Nein, das schaffst du nicht. Doch, das schaff ich. Nein, das schaffst du nicht ... Das zogen sie so lange durch, bis der Neue sie endlich fragte, worüber, zum Teufel, sie sich streiten würden. Far verdrehte die Augen und zeigte auf das Heizungsrohr unter der Decke. Roland würde wetten, dass er seine Hand eine ganze Minute auf das heiße Rohr legen könnte, ohne zu schreien. Es dauerte nie lange, dann hatten sie den Neuen so weit, dass er – nachdem er die Temperatur des Heizungsrohres überprüft hatte – jede Wette abschloss. Vorher hielt Roland natürlich seine echte Hand hoch, damit jeder sehen konnte, dass hier mit offenen Karten gespielt wurde. Kaum war das Geld auf dem Tisch, stand Roland auf, legte seine Sonntagshand auf das Heizungsrohr, mein Vater zählte
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