Bibbeleskaes
schnell einschlafen. Ich träumte von Trottoirs und Baskenmützen, ein verstaubtes Hitler-Bild spielte mit mir Katz und Maus. Ich wachte früh auf und wusste, dass ich nicht mehr einschlafen konnte, bei all dem, was in meinem Kopf herumspukte. So stand ich auf und ging ans Fenster. Im Fliederbusch vor dem Haus lärmten schon die Spatzen, manchmal mischte sich in ihr Tschilpen der helle Gesang eines Rotkehlchens. Aber der Rasen war noch feucht vom Tau und die Blüten der Sonnenblumen am Gartenzaun noch fest verschlossen.
Ich dachte an den kleinen Emile und seinen fremden Vater, der den Deutschenhass in ihn hineinprügelte. An den jungen Mann, den das Glück im Spiel und der Erfolg bei den Frauen nicht zu einem zufriedenen Menschen gemacht und der eine Frau wegen ihrer Weinberge geheiratet hatte. An den Vater von Luc, der es dem Sohn nach so langer Zeit noch übel nahm, dass er ein deutsches Mädchen ins Haus brachte. â Dass man sich Frauen nahm wie eine Ware, hatte ihm das der Kriegsheimkehrer auch eingeprügelt? â An den GroÃvater von Sandrine, der im Alter endlich zur Milde fähig war. Zumindest seine Enkelin würde ihn als freundlichen Mann in Erinnerung behalten.
Was für ein Leben! Eines, das ihn von einem ängstlichen Jungen zu einem harten, von Hass erfüllten Mann hatte werden lassen. Ein kleines jämmerliches Schicksal, bestimmt vom Lauf der Geschichte, das ohne die Nazi-Herrschaft ganz anders hätte aussehen können. Antoinette dagegen: geprägt von derselben Geschichte, vier tote Männer im Gepäck, aber frei von Hass. Wo im Leben wurden die Weichen für die eine oder andere Richtung gestellt? Was lag in der Macht des Einzelnen, und wo wurde er ins Mahlwerk der Geschichte gerissen? Wäre Emile Murnier ein anderer Mensch geworden, wenn er zwanzig Jahre später geboren worden wäre? Oder der Vater nicht aus dem Krieg zurückgekehrt wäre? Und was in seinem Leben hatte dazu geführt, dass ihn jemand erschlagen und ihm mein Messer in den Rücken gerammt hatte?
Verrückt machende Fragen.
Aber die Antwort auf die letzte musste ich finden.
Ich hörte weiter den Vögeln zu, sah sie erschreckt auffliegen, als eine rot-weià getigerte Katze auf der Suche nach fetter Beute durchs Gras zum Fliederbusch schlich. Die Spatzen kehrten schnell zurück, als die Luft wieder rein war. Das Rotkehlchen blieb verschwunden. Ein gelbes Postauto lieà die Vögel das nächste Mal aufschrecken. Im Nebenzimmer hörte ich Antoinette rumoren. Ich ging hinunter in die Küche und stellte die Espressokanne aufs Gas. Es freute mich, dass Antoinette die alten Bol -Schalen noch besaÃ. Ich stellte zwei auf den Tisch, fügte Teller und Messer hinzu. Im Brotsack fand ich ein halbes Baguette, ich schnitt es in Scheiben und wärmte Milch auf.
Antoinette kam, als ich die ersten Brotscheiben röstete. Ohne Lippenrot und Wangenrouge, ohne den kecken Knoten und das gut sitzende Kostüm sah sie furchtbar alt aus.
Ich solle mich nicht genau umsehen, meinte sie. Die Unordnung, der Staub. Es sei einer der Vorteile des Alterns, dass man bei so unwesentlichen Dingen nachlässiger werde.
Würde ich noch einmal mit ihr an diesem Frühstückstisch sitzen? Hatte ich ihr jemals für ihre Freundschaft und ihre GroÃzügigkeit gedankt? Wie oft würde ich sie überhaupt noch wiedersehen?
»Kann ich irgendwas für dich tun? Etwas, das trotz der Vorzüge des Alterns erledigt werden muss?«, fragte ich.
Falsche Bescheidenheit war ihre Sache nicht. So schob ich die nächste Stunde Möbel hin und her, saugte Staub, brachte Altglas zum Container, hängte Bilder um, sortierte zu Kristall erstarrte Marmelade aus und besorgte allerlei anderen Kram. Antoinette legte derweil auf ihrem alten Plattenspieler die Piaf auf. Sie fand, dass es kein besseres Lied zum Putzen gab als »Non, je ne regrette rien« , das wir beide auch lauthals mitsangen.
Als alles erledigt war, bat ich sie um einen Gefallen. Sie rief für mich bei Maître Sendrier, Lucs Anwalt, an. Trotz Antoinettes Wortgewalt und ihrem geballtem Charme gab er sich zugeknöpft.
Er verstehe, dass ich mir Sorgen mache. Alles nehme seinen Lauf, man müsse Geduld haben. Pardon, keine näheren Auskünfte, ich sei keine Verwandte, übersetzte Antoinette.
Mir war zum Weinen wegen der mageren Auskunft, wegen Luc, wegen Antoinette, die bald sterben würde. Aber
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