Bibbeleskaes
Nachrichten auf Abruf warteten. Die eine war von Sylwia, die nachfragte, ob ich heute Zeit hätte, wegen des Hauses bei ihnen vorbeizukommen. Die andere kam erstaunlicherweise von meinem Vater, der eigentlich nie anrief, weil ihm Telefonieren ein Graus war.
»Ich weià nicht, was mit der Mama los ist«, hatte er hinterlassen. »Sie liegt im Bett und weigert sich aufzustehen. Reden tut sie auch nicht mit mir.«
Das war eine wirklich sensationelle Neuigkeit: Martha, die tagsüber im Bett lag! Das einzige Mal, dass ich meine Mutter tagsüber im Bett hatte liegen sehen, war nach ihrem Unfall gewesen. Sie hatte sich das Bein gebrochen und war dazu verdonnert worden, zwei Wochen lang zu liegen. Tyrannisch und unausstehlich hatte sie Edgar und mir vom Bett aus die Hölle heiÃgemacht, und wir waren heilfroh gewesen, als sie, das Bein noch im Gips, wieder in ihrer Küche gestanden hatte. Denn auch wenn sie nur eine Schnitzelküche betrieb, liebte sie ihre Küche nicht weniger als ich meine. Ich verstand also, warum sich mein Vater Sorgen machte.
Ich nahm die B 36 über die Rheindörfer in Richtung Achern und kam mal wieder kilometerweit an Maisfeldern vorbei. Auf dem Rathaus von Diersheim entdeckte ich ein Storchennest, auf dem einer der langbeinigen Vögel elegant landete. »Da brat mir einer einen Storch«, fiel mir ein, und sofort dachte ich an meine Mutter. Denn eines musste man ihr wirklich lassen: Sie war immer für eine Ãberraschung gut.
Von Rheinbischofsheim aus fuhr ich direkt auf den Schwarzwald zu. Die tief stehende Sonne spiegelte sich in den Häusern der Brandmatt. Wie kleine Edelsteine blitzte das Fensterglas aus dem Berghang auf. Rosa hatte immer erzählt, dass die Bergfeen diese glitzernden Lichter entzündeten und den Berg hinauf zu den Mummelseenixen schickten, damit Licht und Wärme zu ihnen in die Tiefe des Sees drangen.
Zehn Minuten später fuhr ich über die Scherwiller StraÃe ins Dorf hinein, bog an der B 3 rechts ab und hätte nur noch einmal rechts abbiegen müssen, um auf den Parkplatz der Linde zu gelangen. Stattdessen fuhr ich links in die TalstraÃe hinein. Mir graute vor einer im Bett liegenden Martha und einem verzweifelten Edgar. Weder für die eine noch für den anderen war ich bereit.
So fuhr ich am Bach entlang. Im Gegensatz zum Aubach, der sich im Halbrund durch Scherwiller schlängelte, plätscherte der Fautenbach schnurgerade durch unser Dorf. Gott, wie oft war ich diese StraÃe hier am Bach entlanggeradelt, als ich als Teenager eine Zeit lang bei Rosa lebte! Der alte Hof von Blasis, der vom Lorenz Emil, der Eichberg, die Nepomuk-Brücke, die alte Kirche, seit Kindertagen vertraute Orte, die allen Veränderungen, Verschönerungen und Erweiterungen im Dorf hartnäckig widerstanden hatten.
Ich fuhr hinauf bis zur alten Ãlmühle und dort über die kleine Brücke zu Rosas Haus. Es war das letzte im Dorf, dahinter erstreckten sich die Kirschbaumhügel bis hinüber nach Mösbach. Von nirgendwo anders im Dorf hatte man einen so prächtigen Blick ins Achertal. Man sah den Bienenbuckel mit seinen Weinbergen, die Schwend, die Burg Rodeck und natürlich den Turm und die Windräder auf der Hornisgrinde.
Auch Rosas Haus war mir immer wie ein Fels in der Brandung im Meer der stetigen Umwälzungen erschienen, und auf den ersten Blick wirkte es unverändert. Der Kies auf dem Hof, die groÃe Kastanie, das alte Fachwerk, die grünen Fensterläden, die Tür mit dem kleinen schmiedeeisern vergitterten Fenster. Nur die frei laufenden Hühner fehlten und der säuerliche Gestank des Schweinestalles, der einen hier immer empfangen hatte.
Ich erinnerte mich an die grüne GieÃkanne, die unter dem Abflussrohr gestanden hatte, an das Körbchen mit Schnüren und Bastfäden auf dem schmalen Fensterbrett links neben der Tür und an die bunten Bienenstöcke unterhalb der ersten Kirschbaumreihe. Und an Rosa! Rosa, die Bienenkönigin, die Alleinherrscherin dieses kleinen Anwesens, die Retterin in höchster Not, weil sie mich bei sich aufgenommen hatte, als ich es mit Martha überhaupt nicht mehr aushielt. Vier Jahre war Rosa nun bereits tot.
Sie hatte mir dieses Haus vererbt. Ein Geschenk, das mich beschämt hatte, denn die letzten Jahre vor ihrem Tod hatte ich mich wenig um sie gekümmert. Selbst zu ihrem achtzigsten Geburtstag hatte ich nur einen StrauÃ
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