Bibbeleskaes
flehe dich an! Rühr nicht an alte Wunden. Bitte, lass uns warten, bis sein Tod geklärt ist, bis wir darüber reden.«
In seinen Augen schimmerte nichts mehr von dem warmen Kastanienton, stattdessen hatten sie die Farbe eines matschigen Feldwegs angenommen. Ich war auf eine Tretmine getreten, hatte die Büchse der Pandora geöffnet, Salz in alte Wunden gestreut, irgendwas in der Art. Bei seinem Blick zog sich mir der Magen zusammen. So stellte ich mir den Blick eines waidwunden Tieres vor, das sich zum Ãberleben zurückziehen muss. Der Mann log nicht, der Mann betrog nicht, der versuchte nicht, mir etwas vorzumachen, aber er zeigte mir eine Grenze auf, die ich nicht übertreten durfte. Weil er mir misstraute? Weil er mich schützen wollte? Weil er ein unappetitliches Familiengeheimnis vor mir verbergen wollte?
Ich hasste mich dafür, dass ich das Gespräch auf den Mord gebracht hatte. Dass ich die flirrende Leichtigkeit der frischen Verliebtheit vertrieben hatte.
»Nachtisch?«, fragte ich vorsichtig.
Luc küsste meine Hand und nickte erleichtert. Wir baten um die Karte, diskutierten über Zwetschgenröster, Kirschwasserbömble, Weinschaumcreme, ob wir einen oder zwei Nachtische nehmen sollten.
Satz für Satz segelten wir zurück in leichtere Gewässer, erzählten dies und das, lachten gemeinsam, führten uns gegenseitig unsere besten Seiten vor. Als die Kellnerin zurückkam, konnten wir uns nicht für einen Nachtisch entscheiden. Sie versprach wiederzukommen und ging.
Luc stand plötzlich auf, umrundete den Tisch, stellte sich hinter mich und flüsterte mir ins Ohr: »Mir ist nach einem anderen Nachtisch. Meinst du, sie haben hier Fremdenzimmer?«
»Lass uns fragen.«
Sie hatten Fremdenzimmer, sogar ein freies. Wir buchten es sofort, konnten schon beim Treppensteigen die Finger nicht von uns lassen. Während Luc die Zimmertür öffnete, knöpfte ich ihm die Hose auf. Danach wilder, schneller, verdammt guter Sex. Gab es einen besseren Nachtisch? Gab es im Leben überhaupt etwas Besseres?
ELF
Am nächsten Morgen weckte mich Glockengeläut, aber kein echtes, merkte ich, als Luc neben mir schlaftrunken nach seinem Handy griff und die Glocken zum Verstummen brachte. Ein paar ärgerlich gemurmelte Sätze auf Französisch, ein Ruckeln und Sich-aufsetzen im Bett, dann ein »Je viens!« . Hastiges Zurückschlagen der Bettdecke, kurzer Abstecher ins Bad, eiliges Anziehen.
»Die Polizei«, erklärte er mir. »Es gibt neue Erkenntnisse. Ich muss so schnell wie möglich zum Gendarmerie-Posten nach Schlettstadt.«
Die Morgensonne schien freundlich ins Zimmer, das ganz in Weià und Blau eingerichtet war, mit Muscheln, Netzen und kleinen Holzbooten als Dreingabe. Ein Raum, der zum Davonsegeln einlud, der die Weite und das Meer versprach, aber uns hatte man gerade mittels einer kalten Dusche an Land zurückbeordert.
»Was für neue Erkenntnisse?«, fragte ich und verschwand ebenfalls im Badezimmer.
»Wollte ich auch wissen«, rief Luc mir hinterher. »Aber es gibt keine Auskunft am Telefon.«
»Soll ich mitkommen?«, fragte ich, als ich mir im Zurückkommen die Haare trocken rubbelte.
Luc schüttelte den Kopf. Meine Sache, halt dich da raus, sagte sein Blick.
»Rufst du mich danach an?«
Luc versprach es. Ein schweigsames Frühstück, eine eilig getrunkene Tasse Kaffee, ein halbes Brötchen für jeden, keiner von uns rührte die üppige Wurstplatte an. Luc fuhr mich ins Dorf zurück, ein hastiger Abschiedskuss, in Gedanken war er woanders.
Die Welt lässt sich nicht aussperren, dachte ich. Man kann ihr ein paar Stunden stehlen, für einen Moment abtauchen, sie eine Zeit lang links liegen lassen. Aber sie holt dich immer wieder ins wirkliche Leben zurück.
Und das wirkliche Leben sah so aus, dass ich frisch verlassen vor der Linde stand.
Weshalb war Luc eigentlich gestern hier gewesen? Nur meinetwegen? Ohne vorher zu klären, ob ich überhaupt da war? Oder hatte er die Rheinseite wegen etwas anderem gewechselt? Etwas, das mit dem Mord an seinem Vater zu tun hatte? Es war sein gutes Recht, mir nichts über Emile Murnier zu erzählen, genauso wie es mein gutes Recht war, mehr über den Mann erfahren zu wollen, in dessen Rücken mein Messer steckte. Martha wusste etwas über den alten Murnier, aber würde sie mit mir reden? Und wenn ja, würde sie
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