Bibbeleskaes
mir die Wahrheit sagen? Dann fiel mir Antoinette ein. Bestimmt eine ergiebige Quelle, sie musste Murnier schon von Kindesbeinen an kennen. Ich wählte ihre Nummer. Sie nahm nicht ab, auch sprang kein Anrufbeantworter an.
Auf der B 3 tobte der morgendliche Verkehr, vor dem Elektrogeschäft warteten Mütter darauf, die StraÃe überqueren zu können, um die lieben Kleinen im Kindergarten abzuliefern, beim Ganter Beck frühstückten zwei Installateure an den Stehtischen. Vor dem Queenâs Pub stapelten sich die weiÃen Plastikstühle in drei krummen Türmen, die Holzstühle der Linde lehnten einzeln an Tischen. So früh morgens war rechts und links der B 3 noch keine Kneipenzeit. Joe schlief wahrscheinlich noch den Schlaf der Gerechten oder Ahnungslosen, aber in der Linde mussten Martha und Edgar bereits beim Frühstück sitzen.
Edgar las immer die Zeitung, Martha hörte immer Radio. Edgar aà immer ein »Schleckselbrod«, Martha immer einen Apfel. Zusammen tranken sie vier Tassen Kaffee, Edgar mit Milch, Martha schwarz. Martha zählte Edgar immer auf, was er den Tag über erledigen musste, Edgar brummte immer ein Ja oder ein Nein. Am Ende faltete Edgar immer die Zeitung zusammen, und Martha wischte mit dem Handrücken die Krümel vom Tisch. So war das immer schon, und so würde es auch bleiben. Die zwei hatten sich über die Jahre zusammengerauft, aneinander abgeschliffen, bekämpft und ihre Pfründe abgesteckt. Der eine war âs Deckele, der andere âs Häfele. Die zwei gehörten zusammen auf immer und ewig. Eigentlich â¦
Ich steckte das Handy ein, griff entschlossen nach meinem Autoschlüssel, setzte mich hinters Steuer und machte mich auf den Weg nach StraÃburg. Heute Nachmittag, wenn mein Patissier-Kurs zu Ende war, nach meinem Besuch bei Antoinette, würde ich nachsehen, ob Martha wieder am Herd stand und Edgar sich endlich beruhigt hatte.
Kaum hatte ich den Achersee und den doppelten Kreisverkehr â Kreisverkehr, übrigens etwas, das die Deutschen gerne von den Franzosen übernommen hatten â zur Autobahn hinter mir gelassen, tauchten wieder die Maisfelder auf. Der feuchte Boden â Rheinauenland, erst nach dem Zweiten Weltkrieg durch Kanäle trockengelegt â eignete sich besonders gut zum Maisanbau. Hier hatte es schon immer Mais gegeben, lange bevor sein inflationärer Anbau den gesamten Oberrheingraben überzogen, mehr noch, sich der Mais überall in Europa wie eine Seuche ausgebreitet hatte. Ausbeutung des Bodens für Viehfutter und Biosprit. Unsere Nachkommen würden uns deswegen verfluchen.
Zwischen den Maisfeldern blitzte gelegentlich ein Blumenfeld auf: Gladiolen, Dahlien, Sonnenblumen zum Selbstpflücken. Gladiolen und Dahlien je siebzig Cent, Sonnenblumen kosteten ein Euro pro Stück. Bunte Farbkleckse, kleine Erholungsinseln für die Augen in dieser Maisgrün-Hölle. Am Rande der Felder dienten Holz- oder Blechkisten als Kasse. Luc hatte sich gestern darüber gewundert, dass das in Deutschland funktionierte, in Frankreich würde man die Blumen »einfach so« mitnehmen. »Aber hier in Deutschland zahlen die Franzosen«, hatte ich geantwortet, denn es gab etliche Blumenfelder in Grenznähe, und die Kunden waren meist Franzosen. »Wenn sie nicht bezahlten, würde kein deutscher Bauer so ein Feld weiter betreiben.«
»Nun ja«, hatte Luc gemeint. »Vielleicht passen sie sich jenseits der Grenze den Gebräuchen des Nachbarlandes an?« Auch jetzt sah ich wieder zwei Autos mit Elsässer Kennzeichen vor einem Gladiolenfeld parken.
Ich erinnerte mich, dass es Gerti war, Felixâ Mutter und Marthas Freundin, die in Fautenbach das erste Blumenfeld angelegt hatte. Am Ende der Scherwiller StraÃe, kurz vor der Auffahrt zum Zubringer. Jeder hatte damals geunkt, dass sie mit dem Feld nichts verdienen würde, aber das stimmte nicht. Gerti legte im Laufe der Jahre sogar ein zweites Feld an und hatte in der Gegend viele Nachahmer gefunden. Sie legte nicht nur Blumenfelder an, sie besaà auch einen wunderbaren Garten, der sich neben dem zubetonierten Hof der Spedition Ketterer wie ein Paradies ausmachte. Sie hatte als Erste Physalis und Kiwis gezogen und sogar eine Bougainvillea-Staude zum Blühen gebracht. Blumen gehörte ihre Leidenschaft, sie besaà zwei grüne Daumen, mit Menschen konnte sie es nicht so gut. Irgendwas an dem Foto, das sie
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