Bibbeleskaes
nächsten zum Sitzen am Wasser einlud. Sandrine steuerte keines dieser sonnigen Cafés an, sie bog in eine schattige Gasse ab und betrat dort zielsicher einen Laden, dessen Leuchtreklame schon bessere Tage gesehen hatte und dessen Inneneinrichtung vor allem eines war: schwarz. Die Wände, der Boden, die Sofas und Sessel, die Tische, selbst die Kerzen, die in kleinen Gläsern flackerten, alles in Schwarz. Da war die silbergraue Theke ein echter Lichtblick. Dennoch, ein süÃes Café sah in meiner Vorstellung anders aus.
»Klasse, nicht?«, schwärmte Sandrine. »Wenn Sie mir fünf Euro geben, gehe ich uns Kaffee holen.«
Fünf Minuten später kehrte sie mit zwei schwarzen Tassen und einer Handvoll Zuckerpäckchen und Milchdöschen zurück. Der Kaffee schmeckte scheuÃlich.
»Also«, sagte ich. »Weshalb ist dein Vater nach Australien abgehauen?«
Sandrine friemelte drei Zuckerpäckchen und zwei Milchdöschen auf und schüttete alles in den Kaffee. »Das ist eine Geschichte, die ich natürlich nur vom Hörensagen kenne. Meine Mama hat mir davon erzählt, bevor wir nach Frankreich zurück sind. Sie war der Meinung, dass ich es wissen muss, wenn ich auf Pépé treffe, den ich ja so gut wie gar nicht kannte. Also: Dad und Pépé hatten einen furchtbaren Streit, nur Grand-mère hat verhindert, dass Dad Pépé totgeprügelt hat. Es ging um Dads Freundin, sie war auch eine Deutsche, Pépé hat sie gehasst. Mama hat er auch gehasst. Mama hat mich vor Pépé gewarnt. Ich musste ihr schwören, nie mit ihm allein zu sein.«
Sehr lebhaft blitzte meine einzige kurze Begegnung mit Emile Murnier vor mir auf. Dieser schnelle Griff zwischen meine Beine, diese Gier in seinen Augen. War solch ein Ãbergriff auf Lucs damalige Freundin der Grund für den Streit zwischen Vater und Sohn gewesen? Oder schlimmer noch, war es mehr als ein schneller Ãbergriff gewesen?
Sandrine arrangierte die Zuckertütchen und leeren Milchdöschen halbkreisförmig um ihre Tasse. »Mama hat nicht verstanden, dass Dad zurückwollte, nach dem, was passiert war. Warum er so Heimweh nach dem Elsass hatte. Er sei nun mal ein tête de boche , ein dickköpfiger Elsässer, da könne man nichts machen, hat Dad gemeint. Und Mama ist ausgeflippt, weil ich nicht in Australien bleiben wollte. Dabei wusste sie genau, dass ich den Typen nicht ausstehen konnte, wegen dem sie sich von Dad getrennt hat. AuÃerdem good old Europe . Ich wollte was sehen von der Welt, nicht nur australische Weinfelder.«
Sie nahm einen Schluck Kaffee. In der Art und Weise, wie sie die Kaffeetasse mit beiden Händen umgriff, erkannte ich Luc wieder, bei dem ich die gleiche Geste beobachtet hatte. Auch die Form der Fingernägel hatte sie von ihm geerbt.
»Ich frage mich, warum Pépé Dad angerufen hat«, wechselte Sandrine das Thema. »Und Dad hat sich das auch gefragt. Er hat mit mir darüber gesprochen am Morgen danach, bevor er zum Polizeiverhör musste. Dad und Pépé haben nie miteinander telefoniert, müssen Sie wissen. Da herrschte Funkstille.«
»Aber zwischen dir und deinem GroÃvater keineswegs«, erinnerte ich mich. »Das Versprechen deiner Mutter gegenüber hast du nicht gehalten. Du warst mit ihm allein unterwegs. Im Café Glatt zum Beispiel, Schwarzwälder Kirschtorte essen.«
»Himmel!« Sie schaute kurz auf, verdrehte die Augen und tauschte dann zwei Milchdöschen in ihrem Arrangement aus. »Was muss man seiner Mutter nicht alles versprechen? Viel zu viel, als dass man alles einhalten könnte. Ich bin sechzehn, fast siebzehn, ich kann auf mich selbst aufpassen. Wollen Sie wissen, wie ich ihn kennengelernt habe?«
Ich nickte.
»Pépé hat bei uns in der Schule einen Vortrag über die Elsässer und den Zweiten Weltkrieg gehalten, über die Malgré-nous -Soldaten. Mein UrgroÃvater, habe ich erfahren, war einer davon. Vor dem Vortrag hat Pépé mich angerufen, hat gesagt, dass er mein GroÃvater sei, und gefragt, ob wir uns nicht mal treffen sollen. Ich habe Dad nichts davon gesagt, aber meine Freundin Marie-Claire zum ersten Pizzaessen mitgenommen. Pépé war unglaublich nett, gar nicht so furchtbar, wie Mama oder Dad behaupteten. Und sein Vortrag in der Schule war super. Alle haben gemeint, dass ich einen coolen Pépé habe. Fand ich auch, und ich finde Geschichte
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