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Bibel der Toten

Bibel der Toten

Titel: Bibel der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Knox
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Entstehung von Schuldbewusstsein und Gewissen? – schon viel früher zu dieser Erkenntnis gelangt und hatte vermutlich auch eine wesentlich klügere und tiefsinnigere Erklärung dafür gefunden. Hatte das vielleicht, auf Umwegen, zu seiner Ermordung geführt?
    Vielleicht. Doch wie sollte sie diese Ahnungen und Mutmaßungen einem nüchternen, praktisch denkenden Polizisten erklären? Vollkommen ausgeschlossen.
    Rouvier war aufgestanden. Er ging an das hohe Fenster der Altbauwohnung aus dem 18. Jahrhundert und spreizte zwei Lamellen der modernen grauen Jalousie, um auf den leise rauschenden Verkehr hinauszuspähen. Schließlich sagte er, an das Fenster gerichtet: »Ich weiß nicht. Ich bin niemand, der das Tarot längst vergangener Zeiten zu deuten versteht. Das hört sich zwar alles sehr interessant an, aber ich habe keine Ahnung, wie es uns weiterbringen soll.«
    Das dämpfte Julias letzten noch verbleibenden Enthusiasmus. Fast fühlte sie sich wieder wie ein kleines Mädchen, das von niemandem ernst genommen wurde. Rouvier war so höflich, charmant und einfühlsam wie eh und je, und dennoch fühlte sie sich, als wären ihre Eltern im Zimmer, die zutiefst ernüchterndes kaltes Wasser auf ihre Träume von einer Karriere als Archäologin herabprasseln ließen. In ihrem Innern schwelte wieder die alte Wut, bevormundet zu werden.
    »Ein Aspekt«, fügte Rouvier hinzu, »wäre da allerdings, bei dem ich mich … hmm … schon frage …«
    »Ja, was?«
    »Die Tatsache, dass dieser Artikel verschwunden ist. Das ist auf jeden Fall interessant, und vielleicht auch wichtig.« Er wandte sich vom Fenster ab und sah sie an. »Sie sagen, dieser Artikel wird in verschiedenen – nennt man das so? –Bibliographien aufgeführt. Das heißt also, er hat tatsächlich existiert? Richtig?«
    »Ja«, antwortete Julia rasch. »Der Artikel wurde allerdings nur in einer äußerst obskuren Fachzeitschrift veröffentlicht. Daher ist es gut möglich, dass nur ein paar hundert Ausgaben davon gedruckt wurden. Und die sind alle verschwunden! Keine Bibliothek hat mehr ein Exemplar davon. Ausgeliehen und nicht mehr zurückgebracht, vermutlich vernichtet. Das ist doch eigenartig, oder nicht?« Sie war sich ihrer selbst nicht mehr sicher.
    Rouvier setzte sich wieder. »Allerdings. Das ist höchst ungewöhnlich. Und wie bereits gesagt, passt es möglicherweise zu etwas anderem, was wir entdeckt haben.«
    »Was?« Es war Alex, der sich zum ersten Mal zu Wort meldete.
    Rouvier lächelte. »Wie alt war Ghislain Quoinelles genau, als er diesen Artikel geschrieben hat?«
    »Zweiundzwanzig.«
    » Oui . Und doch hat er schon in wissenschaftlichen Zeitschriften, egal, wie unbedeutend, publiziert. Wir wissen, er war damals bereits dabei, sich einen Ruf als Wissenschaftler aufzubauen, ein berühmter junger Linksradikaler. Und trotzdem ging es kurz darauf mit seiner Karriere rapide bergab. Als er nach seinem Kambodschaaufenthalt nach Frankreich zurückkehrte, tauchte er prompt in die Bedeutungslosigkeit ab, also dahin, wo er ursprünglich hergekommen war, wo er als Student angefangen hatte: in die Höhlen von Lozère. Und dort blieb er auch. Obwohl seine Karriere so vielversprechend begonnen hatte, geriet er in Vergessenheit.«
    »Ja«, murmelte Alex. »Und er hat mir – oder Julia – nie etwas davon erzählt. Von diesem Artikel, meine ich. Auch Annika hat ihn nie erwähnt. Es ist, als hätte er ihn geheim gehalten, seine Existenz geleugnet. Seine Vergangenheit geleugnet. Wirklich eigenartig.«
    Rouvier beugte sich vor. Im schwindenden Tageslicht schimmerten die grauen Sprenkel in seinem Haar fast silbern. »So eigenartig vielleicht auch wieder nicht. Jedenfalls nicht einmalig.« Er fasste in seine Aktentasche und holte ein Blatt Papier mit einem Foto heraus. Julia erkannte es sofort. Die Aufnahme der Forschergruppe, die 1976 nach China und Kampuchea gereist war. Die Galerie lächelnder junger Gesichter in der glühenden Sonne Phnom Penhs mit dem seltsam verlassenen Boulevard im Hintergrund.
    Der Capitaine deutete mit einer beredten Geste auf das Foto.
    »Inzwischen sind unsere Nachforschungen über diese Leute abgeschlossen. Sie sind über die ganze Welt verstreut. Aber sie haben zwei Dinge gemeinsam – außer ihrer Teilnahme an dieser Reise.«
    »Und die wären?«
    »Die Karrieren fast sämtlicher dieser Männer und Frauen kamen nach ihrem asiatischen Abenteuer zum Erliegen. Alle waren hochintelligente junge Menschen, überzeugte und engagierte Marxisten.«

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