Bibel der Toten
Konfrontation musste sie bei Kräften sein. Sie strudelte in das schwarze Loch der Wahrheit, wo Zerstörung und Vergessen lauerten, wohin vielleicht auch die Killerin unterwegs war – aber die Gefahr hatte fast etwas Berauschendes; sie hatte alle Leinen losgemacht, ließ sich von der Flutwelle mitreißen, surfte auf ihrem Erfolg zur Mündung des Flusses. Wundervoll frei.
Vielleicht war es ihr Stolz, der sie, so unerbittlich wie die Schwerkraft, zur Gefahr hin zog. Aber sie war nun einmal stolz. Als die Thai-Airways-Maschine in Bangkok landete, erwachte sie aus einem Traum, in dem sie für eine wichtige Entdeckung ausgezeichnet wurde. Der Mann, der ihr den Preis überreichte, war ihr Vater. Dann Rouvier. Dann Alex. Ihre Mutter hatten sie anscheinend nicht in die Nordic Hall gelassen. An den Wänden des Saals hingen Gemälde riesiger Katzen.
» Sawadeekap! Thai Airways möchte sich bei ihren Passagieren bedanken, dass …«
Sie schüttelte die letzten Reste Schlaf ab, verstaute ihre neuen Kleider in der Reisetasche, schnappte sich ihren Laptop, verließ das Flugzeug und kam anstandslos durch Zoll und Passkontrolle. Die Hitze vor dem Flughafengebäude war angenehm, wie ein feuchtwarmer Kokon. Nach der frostig klammen Kühle Sochumis war die tropische siamesische Schwüle eine Wohltat.
Es gelang ihr, ein Taxi zu ergattern, das sie vom Suvarnabhumi Airport in die Stadt brachte.
Sie schaute von der erhöht verlaufenden Stadtautobahn auf die Myriaden von Wolkenkratzern, als sie der Stadt entgegenrauschten: Bangkok, so schien es, gehörte zu den unaufhaltsam wachsenden asiatischen Megacitys mit wild wuchernden Hochhäusern und endlosen Stadtautobahnen und gigantischen Reklamen für japanische Autos und Englisch-Sprachschulen und südkoreanische Fernseher.
Und Bangkok hatte auch die Antwort auf alle ihre Fragen. Vielleicht.
»Sie sagen Soi Sick?«, fragte der Taxifahrer. »Soi Sick, Sukhumvit? Bei Sukhumvit?«
»Ja. Ich glaube schon. Soi, äh, ja, Soi Six.«
Sie verstummte murmelnd. Und wenn die Adresse auf der Visitenkarte nicht stimmte?
Sie hatte keine Wahl.
»Sorry, sorry, Lady, ich zahlen Geld.«
Der Taxifahrer reichte an einer Mautstation Geldscheine durch das Fenster, doch als der Schlagbaum hochging, kamen sie nur noch im Schritttempo voran. Jetzt steckten sie im richtigen Stadtverkehr, im Cholesterin asiatischen Wohlstands. Das Taxi kam nur mühsam voran. Der dichte Verkehr stockte, setzte sich wieder in Bewegung, wurde erneut langsamer – wie ein organischer Prozess, peristaltisch.
Julia ließ den Blick über die Stadt gleiten. In der Ferne, zwischen den Wolkenkratzern und den dominanten Hitachi-Reklamen, zuckten lautlos Blitze auf: ein Gewitter über dem Golf von Thailand.
Dann teilte sich der Verkehr endlich, und das Taxi schoss nach links und über ein Bahngleis, und sie waren in der wuselnden Urbanität des Bangkoker Zentrums mit den Kebab-Ständen am Straßenrand, den exklusiven europäischen Geschäften, den vor englischen Pubs herumliegenden Verstümmelten, den Sushi-Bars, Bookazine-Outlets, französischen Restaurants und gigantischen marmornen Hotelklötzen, die sich zwischen chinesische Juwelierläden und Schneider aus Bangladesch zwängten.
»Soi Sick! nicht Soi Eight? Sie sicher? Sure-sure?«
Das lächelnde Thai-Gesicht des Taxifahrers verzog sich zu fragender Skepsis.
Julia wiederholte ihre Antwort: »Ja, Soi Six.«
Das Taxi fuhr nach rechts, die Soi nana hinunter, den Rotlichtbezirk. Nicht mehr ganz junge Westler und Japaner saßen mit unvereinbar jungen Mädchen vor Bars, aus denen Rolling Stones und AC/DC das Zwielicht der Straße beschallten. Überall stellte sich weibliches Fleisch zur Schau, träge, braun, schimmernd und entblößt. Lackierte Zehennägel. Knallbunt geschminkte Lippen. Mädchen aus Isaan verspeisten frittierte Kakerlaken und Käfer und gesüßten Kokosreis mit frischen Mangostückchen.
Inzwischen war es dunkel, und die Straßen waren hell beleuchtet. Julia sah Coyote Bar. Man4man Massage. Lolita Sauna. Bangcockney Pub.
Pachara Suites. Mitten im Rotlichtviertel.
»Hier«, sagte Julia. Ihre Anspannung stieg mit dem Puls. Sie stieg aus und bezahlte den Taxifahrer.
Das Pachara Suites war eine blitzend moderne Wohnanlage, dreißig Stockwerke hoch, mit eleganten Brunnen und einem Bettler mit glasigen Augen, der Passanten einen Yum-Yumnudelbecher entgegenreckte. Das erblindete Auge des manns sah aus wie eine Mungbohne.
Das blitzblanke Foyer war leer – unter dem
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