Bibel der Toten
viel zu lauten Quietschen ihrer Turnschuhsohlen ging Julia zum Aufzug, fuhr in den achtzehnten Stock hinauf und fand in einem langen, hell beleuchteten Flur die gesuchte Tür. Sie klopfte.
Stille. Der Spion ging auf und verdunkelte sich. War hinter der Tür jemand? Und beobachtete sie? War es überhaupt der Gesuchte? War ihr Plan nicht völlig hirnrissig?
Julia klopfte noch einmal.
Das Guckloch schloss sich. Ein Riegel wurde zurückgezogen.
Dann ging die Tür auf, nur ein paar Zentimeter; sie war mit drei
Ketten gesichert. Durch den schmalen Spalt spähte ein altes, intelligent wirkendes Gesicht. Julia erkannte eine gealterte Version des jugendlichen Lächelns auf dem Foto aus Phnom Penh.
Es war Marcel Barnier.
Er starrte Julia aus blutunterlaufenen, irren Augen an und hielt ein langes Messer in der Hand. Aber sobald er gedanklich zu verarbeiten begann, was er sah, schien er sich zu beruhigen. Er spitzte kaum merklich seine feuchten Lippen, als wollte er ihr einen Kuss zuhauchen. Anerkennend. Lüstern.
»Sieh mal einer an. Julia Kerrigan! Die glamouröse Archäologin! Ich habe Sie gegoogelt. Ihr … Foto gesehen. Ja, ja, ja. Ich habe Ihre E-Mails bekommen. Sie müssen verzeihen, dass ich sie nicht beantwortet habe, aber … wie kommt es eigentlich, dass Sie der Türsteher heraufgelassen hat?«
»Wie bitte?«
»Warum? Ich habe ihm gesagt, Sie nicht hereinzulassen. War er etwa nicht da?«
»Nein.«
»Scheiße.« Das Gesicht hinter der Tür fluchte, dann seufzte es. »Dieser dämliche Nudelkopf, dieser Idiot von Supashok. Sie hätten lieber den letzten Türsteher behalten sollen. Ai. Vielleicht musste er gerade pinkeln. Na ja …«
Er legte das Messer weg und löste die erste Kette, dann die zweite und die dritte. Er öffnete die Tür und schaute auf Julias zerknitterte Jeans und ihr vom Jetlag gezeichnetes Gesicht.
»Sie verstehen doch sicher, warum ich so vorsichtig bin. Kommen Sie rein.«
»Danke.«
Nervös, voller Hoffnung und zugleich ängstlich betrat sie die Wohnung.
Es herrschte fürchterliche Unordnung. Auf dem Boden standen Kartons voller Bücher und Bilder. Die Möbel waren zum Teil zerlegt und an den Wänden gestapelt. Auf Tischen und in Ecken standen neben überquellenden Aschenbechern halbvolle Flaschen Johnny Walker und leere Flaschen Jacobs Creek Grenache Shiraz.
»Ich ziehe aus. Ja. Und ja, ich bin Alkoholiker. Aus Gründen, die Sie bestimmt verstehen können. Um zu entkommen, um mein Leben zu retten. Bisher bin ich immer mit Hilfe des verfluchten Alkohols geflohen, aber jetzt muss ich richtig fliehen.«
Er schaute Julia in die Augen.
Sie nickte und sagte: »Ich glaube, ich weiß, warum.«
»Das ist gut. Das ist gutgut. Erspart mir eine Menge blödes Gelabere.
« Sein französischer Akzent war plötzlich weg und wich einem derben, ordinären, ziemlich bizarren anglo-amerikanisch-asiatischen Englisch. Sein Atem roch nach Whisky und Zigaretten und Knoblauch. Vermutlich hatte es ihm den letzten Rest Franzosentum ausgetrieben, dass er jahrzehntelang hier gelebt und die ganze Zeit die einzige westliche Sprache gesprochen hatte, die irgendjemand verstand.
»Sie sehen ganz schön gestresst aus. Bezaubernd, aber gestresst. Hm, sollen wir was trinken? Was meinen Sie? Der Kühlschrank wird das Letzte sein, was ich ausräume.« Er lachte bitter. »Aber was soll’s? Ich trinke einfach gern, es hält mich bei Laune. Was sagt man gleich wieder über die Franzosen? Ein Franzose ist ein schlecht gelaunter Italiener? Ha. Ein Bier, meine Lieben? Für mich lieber Wein!«
Julia sagte ja. Barnier lachte wieder, verschwand in die Küche und kam mit einem Bier und einem Glas zurück. Er beobachtete sie aufmerksam, als sie ihr Tiger-Bier trank.
»Sie wollen alles wissen, was ich weiß. Ja?«
»Also, wie bereits gesagt, habe ich auch ein paar eigene Ideen. Ich wollte sehen, ob ich damit …« Das Bier war erfrischend kalt. Sie nahm einen Schluck davon. »Ob ich damit richtigliege.«
»Das große Mysterium? Vielleicht können wir uns gegenseitig erhellen, ma bichette . Das Problem ist nur, dass ich nicht alles weiß. Vielleicht wissen Sie sogar mehr als ich.« In seinen Blick schlichen sich Wachsamkeit und Skepsis und Besorgnis. »Aber vielleicht auch nicht. Vielleicht weiß ich schon genug. Und auf jeden Fall sollte jemand meine Geschichte zu hören bekommen, bevor ich fliehe.« Er deutete auf die Schachteln. Dann zauberte er von irgendwoher ein Glas Rotwein hervor und nahm einen kräftigen Schluck
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