Bibel der Toten
die Vergangenheit zunutze machen. Sie würde der Vergangenheit etwas Zweckbestimmtes, Zielgerichtetes verleihen. Zwar war ihr bewusst, dass sie die Schrecken der jüngsten Vergangenheit mit ihrem unablässigen Denken verdrängte – leugnete und unterlief. Aber das war ihr egal. Denn sie kam der Wahrheit immer näher.
Sie brauchte viele Stunden; sie brauchte Tage. Um sich von der geistigen Anstrengung ihrer Arbeit zu erholen, legte sie immer wieder Pausen ein, telefonierte mit ihrem Handy, das erstaunlicherweise funktionierte, oder verschickte E-Mails aus einem schäbigen kleinen Café, in dem man zu abchasischem Tee eine Untertasse mit Stachelbeermarmelade bekam.
Die meisten ihrer Telefongespräche führte sie mit ihren Eltern in Michigan oder mit Alex. Sie strotzten vor Lügen. Es geht mir gut, macht euch keine Sorgen um mich. Sie wusste, dass sie ihr nichts anderes raten konnten, als endlich nach Hause zu kommen; aber ebenso gut wusste sie, dass sie natürlich nicht nach Hause kommen würde, nicht jetzt.
Ihre E-Mails waren fast alle an Marcel Barnier gerichtet. Er war zweifellos das Bindeglied. Das nächste Bindeglied. Möglicherweise war er der einzige Mensch, der ihr sagen konnte, ob sie mit ihrer Theorie richtiglag.
Er antwortete ihr nicht. Kein einziges Mal.
Das überraschte Julia nicht. Sie saß da und trank ihren nach Stachelbeeren schmeckenden Tee und vermutete, dass Barnier das Licht der Öffentlichkeit scheute. Die marxistischen Wissenschaftler und Intellektuellen aus dem Westen, die damals in Kambodscha gewesen waren, dürften inzwischen gemerkt haben, was ihnen blühte: dass sie alle sterben müssten. Selbst wenn sie noch so zurückgezogen lebten, mussten sie zumindest die eine oder andere Meldung über die eigenartigen Verbrechen mitbekommen haben, vor allem über die aufsehenerregenden Morde, die sich vor kurzem in Frankreich ereignet hatten.
Doch wenn Julia eine Bestätigung für die Richtigkeit ihrer Theorie haben wollte, war sie auf Marcel Barnier angewiesen, denn er war der Letzte aus der Gruppe, der noch am Leben war. Sollte sie einfach nach Bangkok fliegen? Und ihn unangemeldet aufsuchen? Einmal hatte das bereits funktioniert. Ja, vielleicht würde sie nach Bangkok fliegen. Doch zuerst musste sie das intellektuelle Rätsel lösen.
Am dritten Tag war es so weit. Sie hatte das Problem geknackt, ihre Theorie stand. Mit diebischer Freude trat sie von ihrem Laptop zurück, an dem sie im Foyer des Hotels arbeitete, wenn die Zimmermädchen ihren täglichen, allerdings lachhaft halbherzigen Versuchen nachgingen, Julias Zimmer von vierzig Jahren Sowjetschmutz zu befreien.
Es waren nur drei Seiten mit ihren Gedanken. Aber es war die Wahrheit. Oder zumindest ihre Version der Wahrheit, einer Wahrheit, die jahrzehnte- und in gewisser Hinsicht sogar jahrhundertelang verschüttet gewesen war.
Es war die Erklärung für den gewaltigen Entwicklungssprung, den die Menschheit in der Eiszeit gemacht hatte. Es war die spirituelle Beichte der Menschheit, vor dreißigtausend Jahren an Höhlenwände geschrieben.
Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Julia etwas zu Ende gebracht: eine Reise abgeschlossen und diese großartige Entdeckung gemacht. Jetzt konnte sie der ganzen Welt eine außergewöhnliche These vor Augen führen. Das fünfzehnjährige Mädchen, das immer noch in ihr steckte, das Mädchen, das beim Anblick der schrecklichen Hände von Gargas fast in Tränen ausgebrochen wäre, jubilierte und freute sich diebisch und war beinahe glücklich – trotz allem und wegen allem. Sie lächelte still in sich hinein.
»Spasibo.« Sie bekam von einem Kellner die Rechnung für ihren gesüßten Dosenorangensaft gebracht. Dann stand sie auf, ging über den trambahnbimmelnden Boulevard in das Internetcafé, um den nächsten Flug von Adler nach Moskau zu buchen und weiter nach Bangkok. Sie hatte gerade noch genügend Geld für ein paar Flüge und billige Hotelaufenthalte. Nötigenfalls würde sie dieses Geld bis auf den letzten Cent ausgeben, um sich mit Barnier zu treffen, egal, ob der alte Franzose mit ihr reden wollte oder nicht. Das war ihr Leben, ihr großer Moment. Nach allem, was in letzter Zeit passiert war, brachte sie nichts mehr so leicht aus der Fassung; und wenn ihr das Geld ausging, na und? Solche Lappalien ließen sie inzwischen völlig kalt.
Ein Valium verhalf ihr auf dem Flug nach Moskau zu tiefem, ungestörtem Schlaf, auf dem Weiterflug nach Bangkok griff sie zu xanax. Für die bevorstehende
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