Bibel der Toten
daraus. Er zündete sich eine Zigarette an und blickte Julia in die Augen. »Dann mal los. Stellen Sie mir Ihre Fragen.«
»Aber«, stotterte Julia. »Ist das nicht ein bisschen schnell? Und außerdem, ich meine … entschuldigen Sie, wenn ich das so sage, aber Sie stehen doch sicher enorm unter Druck. Wann wollen Sie hier ausziehen?«
Barnier ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Er blies den Rauch seiner Zigarette in die Luft, nahm einen Schluck Wein und stierte auf Julias blonde Haare. Sein eigenes Haar war dünn und bräunlich grau; seine Kleidung war leger und jugendlich, aber nicht auf Ghislains peinliche Art. Er trug einfach nur eine Jeans und ein graues T-Shirt voller Rotweinflecken. Slipper. Keine Socken. Eine gesunde Bräune. Ein Mann, der sich, vom Alkohol mal abgesehen, einigermaßen gut gehalten hatte. Aber das Gesicht wirkte gehetzt, die Lippen waren von Tannin rot gefleckt.
Schließlich sagte er: »Ich tauche unter, demnächst. Ich setze mich irgendwohin ab, wo mich diese Killerhexe, diese krasue , nicht findet. Ich kenne die Zeitungsmeldungen. Ich habe die ganzen dämlichen E-Mails, die mir die Polizei geschickt hat, gelesen, aber nicht beantwortet. Ich traue keinem Menschen. Scheiße. Natürlich stehe ich total unter Druck. Sie hat es auf mich abgesehen – hier.«
»Wissen Sie, wer sie ist, diese Killerin?«, fragte Julia.
»Nein. Nicht genau.«
»Wissen Sie, warum sie all die Leute umbringt?«
»Aus Rache!« Barnier stippte die Asche von seiner Zigarette und sah Julia plötzlich mit einem Ausdruck tiefer, existenzieller Angst an. Er stand am Rand einer Panik, echter, unverstellter Panik. Doch dann kehrte die aufgesetzte Kaltschnäuzigkeit wieder zurück. »Ja, sie tut das alles nur aus einem einzigen Grund: Rache – Rache für die Millionen armen Teufel in Kambodscha, die wir zu vernichten geholfen haben. Und wissen Sie was, ich kann es ihr nicht mal verdenken. Das ist der entscheidende Punkt. Ich kann es ihr nicht verdenken. Diese ganze Scheiße, die wir damals getan haben, die Marxisten, wir, ich, der Rote Dany und diese ganzen anderen Studentenführer, die jetzt in den linken Regierungen Europas sitzen, wir haben die Roten Khmer unterstützt, wir haben dem Rest der Welt ihre Lügen erzählt, wir waren ihre nützlichen Idioten, vielleicht verdienen wir es sogar, zu sterben. Aber wenn ich sterbe, dann will ich glücklich sterben. Mich nicht in aller Stille und Bescheidenheit in diese letzte dunkle Nacht verabschieden. Nein, kommt überhaupt nicht in Frage, ich werde es richtig krachen lassen, mit ein paar nutten und jeder menge Koks und was sonst noch dazugehört. « Sein Blick zuckte durch das Zimmer. »Kommen Sie. Sie haben völlig recht. Wenn wir schon reden, dann an einem anderen Ort, an einem sicheren Ort, an einem Ort, an dem es hübsche Mädchen gibt. Mehr hübsche Mädchen. Die auch noch nackt sind. Übrigens sind Sie nicht die Erste, die mich heute aufsucht. Mit einem Mal scheine ich richtig gefragt zu sein, eine Sehenswürdigkeit, eine Touristenattraktion.«
»Wieso, wer war noch bei Ihnen?«
»Eine Kambodschanerin. Chemda Tek. Mit ihrem Freund Jake … Jake, ich weiß nicht mehr. Ein Fotograf jedenfalls. Ein Engländer.« Barnier rülpste Rauch. Ordinär. »Sie waren heute Morgen bei mir. Auch sie haben Angst. Auch sie wollen dieses Rätsel lösen. Ich habe ihnen gesagt, sie sollen erst mal wieder gehen, weil ich packen muss, und ihnen versprochen, mich heute Abend in einer Bar mit ihnen zu treffen, in einer gut besuchten Bar, in der es jede Menge Zeugen gibt. Sie ist in der Soi Cowboy.« Er ließ die Zigarettenkippe in sein Weinglas fallen. Sie ging zischend aus. »Mein Gefühl sagt mir, dass sich keine Frau allein in diese Bar wagen würde, deshalb dürften wir dort nichts zu befürchten haben. Kommen Sie, gehen wir. Denn hierzubleiben ist fast so, als säße man auf dem Präsentierteller und wartete darauf, umgebracht zu werden. Wie eine lebende Zielscheibe.«
»Wer sind diese beiden? Was wollen sie?«
»So genau weiß ich das auch nicht. Ich war betrunken, als sie es mir erzählt haben. Es war elf Uhr vormittags, als sie hier aufgekreuzt sind. Sollen sie es uns doch erklären, non ? Kommen Sie, wenn wir schon reden müssen, tun wir es am besten alle zusammen. An einem sicheren Ort. Hier lang, moumoune .«
Sie fuhren im Aufzug nach unten, bogen um die Ecke und gingen dann zehn Minuten lang den belebten Sukhumvit Boulevard hinunter. Barnier spähte an jeder Kreuzung so
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