Bibel der Toten
irgendwie schliefen sie ein.
Bei Tagesanbruch, oder kurz davor, wachte er auf. An den äu-ßersten Rändern färbten polarlichtähnliche Schattierungen aus violettem Grün das tiefe, endlose Blau des Himmels. Er war von einem Geräusch wach geworden. Alle anderen schliefen. Das Geräusch hatte Julia gemacht; sie stand vornübergebeugt am Fuß der Holztreppe. Offensichtlich war ihr übel. Er stand auf und ging zu ihr, aber sie winkte ihn fort.
»Es geht schon. Leg dich ruhig wieder schlafen.«
Er gehorchte, und ausnahmsweise träumte er diesmal nicht.
Der Morgen kam schroff und krass und blau und kalt, und es war, als hätte er über Nacht Asthma bekommen, so dünn war die Luft. Die Hände um die heiße Blechtasse gekrümmt, trank er schwarzen Tee und studierte Julias blasses Gesicht. Die enorme Höhe machte schon ihm gewaltig zu schaffen, und er fragte sich, wie es erst ihr damit gehen musste.
»Julia, du musst unbedingt hierbleiben«, sagte er deshalb. »Erst mal werde ich sowieso nur die Lage sondieren, und das kann ich auch allein. Bitte bleib hier, ja?«
Zum ersten Mal schien sich die Amerikanerin einer inneren Schwäche zu ergeben. Sie nickte.
»Heute fühle ich mich wirklich nicht so gut. Vielleicht … okay, vielleicht sollte ich mich lieber etwas schonen. Aber versprich, dass du zurückkommst und mich holst, ja?«
»Ich werde erst mal versuchen, mir einen groben Eindruck von der Lage zu verschaffen. Und dann hole ich dich nach.«
Jake erwähnte mit keinem Wort, was er tun wollte. Er hatte auch nicht die leiseste Ahnung, was das sein könnte. Er wusste nur, dass er irgendetwas tun musste, und er hoffte, dass es sich aus der Situation heraus ergeben würde. Er sah ständig Chemda vor sich, wie sie auf dem Operationstisch lag, mit kahlrasiertem Schädel, die Kopfhaut zurückgeklappt und darunter ein Stück blanker Schädeldecke.
Sie gingen die Treppe hinunter zu ihrem Auto. Der Blick, den man vom Vorplatz des Bauernhauses zum Tal hinauf hatte, war atemberaubend.
»Los«, sagte Tashi. »Wir fahren jetzt. Wenn wir fahren müssen.«
Jake drehte sich um und umarmte Julia. Sie war immer noch blass und fröstelte. Er sagte: »Du solltest lieber nach Zhongdian zurückfahren. Es findet sich bestimmt jemand, der dich mitnimmt.«
»Nein. Ich warte hier. Sieh zu, dass du Chemda findest.«
Sie küsste ihn auf die Wange. Er stieg zu Tashi ins Auto und winkte, dann fuhren sie auf der kurvenreichen Bergstraße schweigend los. Vor ihnen erstreckten sich Hochebenen und Bergketten. Jake fotografierte. An einem gurgelnden braunen Bach lag ein ausgebleichter Yakschädel in einer Wiese. Der Himmel war so blau, dass es wehtat. Es war, als käme Jake endlich in den Himmel. In den Himmel eines anderen Gotts, einer anderen Zeit.
»So«, sagte Tashi, »das ist Straße, die Frau gemeint hat. Hier ist viel gefährlich. Erst runter, dann rauf, auf heiligen Berg. Sie sagt, wir sollen geheime Straße nehmen, ist Berg von Schneegöttin. Dort sind Himmelsdörfer, mit diese Menschen. Wir fahren hinter die Berg.«
Er deutete auf einen schwindelerregend steilen, wunderschönen Gipfel: eine schlanke Pyramide aus grauem Eis vor blauem Grund, imposant und unnahbar, vielleicht sechstausend Meter hoch, von weißem Schnee bedeckt.
Aber sie fuhren bergab. Die Straße war extrem abschüssig und führte in eine tiefe Schlucht, und je weiter sie nach unten kamen, umso feuchter und sauerstoffreicher wurde die Luft. Dichter Dschungel mit riesigen Farnen und hohen Palmen umfing sie. Ein Affe kreischte. Papageien alarmierten mit ihren roten Federn die Luft. Der Abgrund war schwindelerregend tief, dreitausend Meter oder mehr.
Schließlich erreichten sie die Talsohle, und dann fuhren sie in scharfen Haarnadelkurven, links, rechts, links, wieder bergauf, bis sie nach einer Stunde halsbrecherischer Fahrt ein Plateau erreichten. Sie kamen durch drei armselige, unbeschreiblich abgelegene Dörfer. In einem Feld hockten barfüßige tibetische Frauen mit reich bestickten Turbanen und stachen Rüben. Hinter ihnen ragten die heiligen Berge auf.
»Das sind Himmelsdörfer«, erklärte Tashi.
»Warum heißen sie so?«
»Wegen Nebel. Der Nebel geht in Häuser. Wenn du aufwachst, bist du auf Wolke, wie im Himmel. Und auch, weil man nicht zurückkommt, wenn so weit gegangen. Das ist wie gestorben und dann im Himmel.«
Sie ließen die Himmelsdörfer hinter sich. Vor ihnen gabelte sich die Straße. Tashi hielt an, stieg aus, sog prüfend die Luft ein und
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