Bibel der Toten
Straße führte an einem blauen mineralhaltigen See entlang, der in einem unheimlichen, grün bemoosten Wald lag.
Und als die Sonne hinter den Gipfeln verschwand, erreichten sie endlich ein Dorf, in dem es keine Elektrizität gab, und Tashi bog von der holprigen Straße auf den Vorplatz eines riesigen alten tibetischen Holzhauses. Vom Eingang grinste ihnen eine zahnlose alte Frau entgegen. Hier würden sie übernachten. Sie stiegen eine Treppe zum Wohnbereich des Gebäudes hinauf, der über einer Scheune voller Gerste und dampfender Tiere lag.
Unter einem großen Kessel in der Mitte des schummrigen Hauptraums brannte ein beißendes Feuer aus frisch gehacktem Holz. An den Deckenbalken waren Schweineköpfe und Yakfüße zum Trocknen aufgehängt. An einer Wand hing ein Mao-Poster. Auf der gegenüberliegenden Seite lächelte der Dalai Lama von einem Foto. Hinter leise raschelnden Seidenvorhängen hingen Thangkas, buddhistische Rollbilder.
Mao starrte ihn an. Der Dalai Lama starrte ihn an. Die von der Decke hängenden geräucherten Schweineköpfe mit ihren eingedrückten braunen Backen starrten ihn aus langwimprigen kleinen Augen an wie von einem Auto plattgewalzte Cartoonfiguren. Jake versuchte krampfhaft, nicht an seine Schwester zu denken. Warum wurde er von diesen verstörenden, geradezu obszönen Gedanken bombardiert? Dahinter steckte sicher die Hexe, die krasue , die ihn fertigmachen wollte. Aus der Ferne. Aber wenn er wirklich verhext war, würde er dagegen ankämpfen. Er musste kämpfen, schon allein wegen Chemda.
Vielleicht lag sie bereits mit aufgebohrtem Schädel auf dem Operationstisch und bekam das Gehirn viviseziert, während er hier herumsaß.
»Haben Sie Hunger?«, fragte Tashi.
»Ja.«
»Alte Frau ist Freundin von meiner Tante. Sie macht Essen.«
Die Bitte wurde an die Frau weitergeleitet, worauf sie nickte und nach mehreren Enkelinnen rief, die sich mit wippenden Pferdeschwänzen prompt wie schnuckelige kleine Flaschengeister aus dem Dunkel materialisierten. Essen wurde aufgetragen. Das Haus füllte sich mit Tibetern. Die ganze Familie aß Walnüsse und gekochte Ackerbohnen und Yakkoteletts und in Sesam gewendete Würfel aus ranzigem Schweinefett.
Tashi wischte sich die fettigen Hände an seiner Lederjacke ab. »Also, ich frage jetzt wegen diese Ort. Balagezong.«
Er sprach mit der alten Frau. Sie nickte. Dann sah sie Jake und Julia an und schüttelte den Kopf. In ihrem finsteren Gesicht lauerte zornige Trauer.
»Sie sagt, sehr schlechter Ort«, dolmetschte Tashi. »Sie sagt, nicht hinfahren. Dort leben Menschen mit Narben, dort leben tote Menschen, ich weiß nicht, wie sie heißen.«
»Was?«
»Sie sagt, dort ist Tod. Dort ist viel, viel Tod. Menschen mit Narben, Geister. Sie leben in Himmelsdörfer. Sie sagt, nicht hingehen.« Er wiederholte ihre Worte. »Nicht gehen zu Himmelsdörfer. Sie kommen nicht zurück.«
37
D ie Himmelsdörfer: Jake gingen verstörende Bilder durch den Kopf. Er widersetzte sich ihnen, mobilisierte all seine Kräfte. Konzentrierte sich auf Chemda. Er wollte mehr darüber wissen.
»Wie weit ist es dorthin? Nach Balagezong?«
Tashi seufzte. »Nur noch ein paar Stunden. Aber Straße ist gefährlich. Jetzt schlafen wir. Vielleicht morgen denken Sie anders und fahren nach Hause. Ich hoffe.«
»Auf gar keinen Fall. Ich werde es mir nicht anders überlegen. Wir müssen früh aufbrechen.«
Der Tibeter zuckte mit den Achseln und grinste schief.
»Sie haben Probleme. Ich sehe. Ich helfe. Wie abgemacht.«
Tashi zog sich in eine dunkle Ecke des großen Raums zurück und unterhielt sich flirtend mit einem der Mädchen. Ihr leises Kichern füllte die Stille des Hauses am Fuß der Schneeberge.
Die Nacht brach herein. Ganz plötzlich. Jake fragte sich, ob diese Abruptheit etwas mit der für das Herz so belastenden Höhenlage zu tun hatte, wusste aber nicht genügend über die physiologischen Zusammenhänge. Er stand auf und stellte sich an das glaslose Fenster, um zu den verschneiten Gipfeln und den Sternen hinaufzuschauen. Er nahm sein Handy aus der Tasche.
Natürlich hatte er keinen Empfang. Und wen hätte er schon anrufen sollen? Wer konnte ihm wirklich helfen? Tyrone? Die Polizei? Die Polizei jagte ihn.
Sie waren ganz auf sich allein gestellt.
Draußen in der bitteren Kälte bellten Hunde. Jake steckte das Handy wieder ein und wandte sich vom Fenster ab. Er legte sich neben Julia auf eine Art Strohsack und flüsterte ihr ein paar aufmunternde Worte zu, und
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