Bibel der Toten
verschwunden? Warum hatte Tou sie am vorangegangenen Abend angerufen? Warum sollte jemand einen harmlosen alten Historiker umbringen? Was wollten sie in der Ebene der Tonkrüge? Wer hatte ihnen den Auftrag erteilt, dort Nachforschungen anzustellen? Was erwarteten sie dort zu finden? Was war an den alten Krügen so interessant? Was? Wann? Wo? Wie? Warum waren sie hier?
Chemda hatte den Blick zu Boden gesenkt und schwieg; sie sagte so wenig wie möglich. Jake folgte ihrem Beispiel. Der dünnste Polizist, der mit dem am stärksten verschwitzten Hemd, starrte sie zunehmend finsterer an und schrie aufgebracht auf sie ein. Sein Gesicht war extrem dünn; alles an ihm war dünn, das Nylon seiner Kleidung, das Plastik seiner Schuhe, die Vokale seiner Beschimpfungen. Er war dünn und wütend und fünfzig und sprühte vor Hass auf alles, wofür Jake stand: Geld, der Westen, Jugend, Privilegiertheit, die englische Sprache – die vielen Jugendlichen aus dem Westen, die auf die Treppen der Tempel von Viang Veng kotzten, die vielen Touristen aus dem Westen, die das uralte schöne Laos versauten.
Fast hätte sich Jake bei ihm entschuldigt.
Er sagte: »Wie bitte?«
Der Mann schüttelte wütend den Kopf und spuckte die nächste Frage aus; aber er sprach so gut wie kein Englisch. Er stand einfach nur da und schrie Jake an. Aber was schrie er? Jake war angesichts dieser laotischen Schimpfkanonade ständig versucht, den Kopf einzuziehen. Er fürchtete, der Polizist könnte jeden Moment seine Pistole aus dem Holster reißen und ihm damit ins Gesicht schlagen, ihm die Nase brechen wie ein Stück Balsaholz, sodass er ihm seinen Schreibtisch vollblutete. War das nicht bereits ein Blutfleck? Dort drüben an der Wand?
Jake hielt weiter den Mund. Und starrte geradeaus vor sich hin. Unterwürfig und höflich – und stumm. Das war, was Chemda ihm geraten hatte. Sag kein Wort. Aber er hatte ganz und gar kein gutes Gefühl bei der Sache. Ihm waren schon alle möglichen Geschichten von westlichen Journalisten zu Ohren gekommen, die es in Laos übel erwischt hatte, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren: Journalisten, die ins Gefängnis geworfen und gefoltert wurden, weil sie in einem äußerst empfindlich reagierenden kommunistischen Regime, in einem in die Enge getriebenen, von Kapitalisten umzingelten Land unliebsam aufgefallen waren. Auf der Terrasse des FCC in Phnom Penh hatte er schon einige Männer mit blauen Augen und Blutergüssen und verstörten Gesichtern gesehen: Ich komme gerade aus Luang zurück, wo das Bier gut ist und die Mädchen wirklich süß, aber ich kann dir sagen, Mann …
Als die Polizisten kurz aus dem Zimmer gingen, flüsterte Chemda Jake zu: »Vergiss nicht, was ich dir im Hotel gesagt habe.«
Wie hätte er das jemals vergessen sollen? Die Stunden seit der Entdeckung der Leiche waren inzwischen wie ein unauslöschlich in sein Gedächtnis eingebranntes Schreckenstableau.
Als sie die Leiche entdeckt hatten, war Chemda trotz des Schocks nicht aus der Fassung geraten; sie hatte sich mit erstaunlicher Ruhe Jake zugewandt und ihm eingeschärft: »Die Polizei wird das alles hier gegen uns verwenden und uns loszuwerden versuchen, oder Schlimmeres. Deshalb: Wenn sie uns verhören – sag kein Wort.« Dann hatte sie Jake mit der an der knarrenden Tür baumelnden Leiche zurückgelassen und war zur Rezeption des Hotels gegangen.
Von dort war sie wenig später mit dem Geschäftsführer zurückgekehrt, einem dicken Mann mit roten Augen, der entsetzt auf die Leiche starrte und wie ein absurd dicker Balletttänzer auf Zehenspitzen um die Blutlache tippelte.
Was dann kam, war eine Abfolge unerfreulicher Prozeduren. Der Krankenwagen. Die Sirenen. Lichter auf dem Parkplatz. Dann die schmutzigen weißen Polizeiautos. Hektische Telefonate und SmS. Die Fahndung nach Tou war gestartet worden – ohne Erfolg. Schließlich hatte sich Jake in einem freien Zimmer erschöpft aufs Bett plumpsen lassen und ein paar Minuten geschlafen.
Kurz nach Tagesanbruch war die Polizei zurückgekommen, um Chemda und ihn auf die Wache mitzunehmen – zum Verhör. So waren sie schließlich hier gelandet, in der Polizeistation von Phonsavan, einem anonymen, aber bedrohlichen Betonkasten in einer anonymen, aber bedrohlichen Betonstadt, in einem Bau, dessen einziger Schmuck drei kommunistische Fahnen waren, die in der Morgendämmerung schlapp über dem Eingang hingen.
Der junge laotische Polizist, der sie abgeholt hatte, war einigermaßen höflich
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