Bibel der Toten
ihre elegante graue Lederjacke ausgezogen, und ihm entging nicht, wie zart ihre gebräunten Schultern waren.
»Er hat einfach Angst bekommen. Er ist Hmong.«
»Alles schön und gut, aber …«
»Und er hat natürlich Kontakte zu anderen Hmong; deshalb haben wir ihn ja angeheuert. Die Hmong helfen uns. Das hier ist nämlich das Stammland der Hmong; niemand kennt sich in der Ebene der Tonkrüge so gut aus wie sie. Sie bewirtschaften die Reisfelder, sie roden und brennen die Wälder nieder. Außerdem wissen sie, welche Gebiete zu gefährlich sind, wo es noch zu viele Blindgänger gibt. Natürlich ist das – war das – ziemlich wichtig für unsere Arbeit.«
»Er hat dich gestern Abend angerufen – er hat dich zu erreichen versucht. Wieso …« Jake bemühte sich, aus dem Ganzen schlau zu werden. Irgendetwas passte nicht ins Bild: ein Erinnerungssplitter, störend, piksend wie ein Steinchen in einem Schuh.
Chemda unterbrach ihn in seinen Überlegungen. »Sie wollen uns wirklich nicht hier haben, Jake. Aber das habe ich ja bereits gesagt. Und dieser Mord ist ihnen ein willkommener Anlass, uns das Leben so schwer wie möglich zu machen. Die UN hat eine Ewigkeit gebraucht, um überhaupt eine Genehmigung für unsere Expedition zu erhalten. Und jetzt sitzen die Laoten am längeren Hebel. Ist dir eigentlich aufgefallen, dass sie uns die Pässe nicht abgenommen haben? Sie haben sie uns nur deshalb gelassen, weil sie wollen, dass wir verschwinden. Dass wir aufgeben und nach Hause fliegen. Das hat uns dieser Polizist in aller Deutlichkeit zu verstehen gegeben. Du hast es doch selbst gehört, wie er gesagt hat: ›Laos ist nicht Kambodscha.‹ Ahh.« Ihr Seufzer war kurz. Unsentimental. Und irgendwie auch ungebrochen.
Jake setzte sich zurück. Ihr Kaffee wurde serviert, zwei angeschlagene kleine Tassen dickflüssiger Schwärze und eine bereits aufgestochene, blasenwerfende Dose gesüßter Kondensmilch. Jake träufelte die sämige Milch in seinen Kaffee. Chemda trank ihren schwarz.
Jake nahm einen prüfenden Schluck.
Nicht weit von ihnen stand ein Mann, der eine Bienenwabe in den Händen hielt. Sie sah aus wie ein Stück vermodertes Holz. Der Mann steckte den Finger in eine der Waben und pulte ein sich windendes weißes Etwas heraus. Eine lebende weiße Made, die der Mann mit einem genüsslichen Grinsen in seinen Mund schob und zerkaute. Dann nahm er einen Schluck aus einer Dose Dr. Pepper, fischte die nächste Larve heraus und verspeiste sie.
In Jakes Kopf griffen plötzlich mehrere Rädchen ineinander. Er sah Chemda an und sagte: »Glaubst du denn, sie waren es selbst? Die Polizei?«
Ihr Blick traf seinen. Auf halbem Weg.
»Ja.« Sie runzelte die Stirn. »Genau das glaube ich. Wegen der Art, wie er gestorben ist.«
»Warum? Es war ein brutaler Mord. Aber wieso beweist das, dass es die Polizei war?«
»Hast du denn noch nichts von den furchtbaren Gräueln der Roten Khmer in Tuol Sleng gehört?«
»Das Folterzentrum, S-21? Natürlich kenne ich diese Geschichten von Tuol Sleng. Grauenhaft. Aber vielleicht sind mir ja … ein paar wichtige Details entgangen.«
Chemda ließ den Blick über das Café schweifen. Der Markt wurde geschlossen; auf Holzstöckchen gespießte getrocknete Ratten wurden in Pappschachteln gepackt. Schließlich antwortete sie:
»Ich habe zwei Berichte über Experimente gelesen, die sie dort durchgeführt haben. Berichte, die vom Leiter des Gefängnisses bestätigt wurden.«
»Von Genosse Duch.«
»Ja. Von Genosse Duch. Offensichtlich haben sie in Tuol Sleng Gefangene an eiserne Bettgestelle gekettet und ihnen dann das Blut abgepumpt … bis auf den letzten Tropfen. Ursprünglich war das Blut für verwundete Rote-Khmer-Soldaten gedacht, aber dann haben sie die Blutabnahme als, äh, Folter eingesetzt, als eine Art sadistisches Spiel.«
Jake kam langsam ins Schwitzen. Die Hochlandsonne stand inzwischen fast senkrecht über ihnen und brannte unerbittlich auf sie herab. Ein sadistisches Spiel? Er musste daran denken, wie der Polizist in der Schreibtischschublade gewühlt hatte.
»Sie haben den angeketteten Gefangenen alles Blut abgepumpt«, fuhr Chemda fort. »Einfach nur, um zu sehen, was passieren würde. Sie haben ihnen über mehrere Stunden hinweg das Blut aus dem Körper gesaugt, bis kein Tropfen mehr übrig war. Die Gefangenen haben sich verzweifelt gewunden und nach Luft geschnappt. Laut verschiedenen Augenzeugenberichten haben sie sich am Ende, wenn sie starben, wie zirpende Grillen
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