Bibel der Toten
schmerzhaft und herrlich bedeutungslos.
Nichts, nichts, nichts. Das Zen und der verwelkte Garten des absoluten Nichts. Nichts hatte einen Sinn – und in dieser Abwesenheit jeglichen Sinns lag eine logische Schönheit. Gewissermaßen.
Auf einmal fühlte sich Jake ein wenig benommen, und er spürte einen Schmerz unter der Narbe an seinem Kopf, ein brennendes Jucken. Und er war hungrig.
Sein Körper verlangte nach Nahrung, deshalb kehrte er auf die Terrasse zurück, wo sie immer noch auf ihn warteten. Ty, Sen, Chemda und Fishwick saßen an dem großen Tisch, auf dem jetzt tibetisches Essen stand.
Chemdas Gesicht war bestürzt und traurig. Tyrones Gesicht war ironisch und neugierig.
»Und? Wie fühlst du dich, Mann?«
Jake zog sich einen Stuhl heran.
»Ganz okay. Besser.«
»Besser?«
»Besser, als ich mich … seit langem gefühlt habe.«
Tyrone applaudierte. »Hab ich’s dir nicht gesagt?«
Sovirom Sen nickte zufrieden. Sogar der melancholische Fishwick lächelte wehmütig.
Nur Chemda war nicht glücklich. Sie berührte Jakes Hand; ihre Traurigkeit war unübersehbar. Er schaute auf ihre Finger mit den abgekauten Fingernägeln.
»Und wie geht es dir in Bezug auf mich?«, fragte sie.
»Auf jeden Fall besser«, sagte Jake. »Was hast du denn? Natürlich geht es mir besser, in Bezug auf dich und auf grundsätzlich alles! Aber könnte ich jetzt vielleicht was zu essen haben? Ich komme fast um vor Hunger.«
Tyrone lachte wieder. »Ich glaube, sie haben dich wirklich gut hingekriegt.«
Chemda zog ihre Hand zurück. Jake war es egal; sein Magen rumorte. Er lud sich einen Apfel und Gerstenbrot sowie eine riesige Portion roten Ziegeneintopf und Tomaten in Öl und Senfkörnern auf seinen Teller. Dann aß er mit wahrem Heißhunger und spülte das Essen mit Gerstenbier und gesalzenem Tee aus großen Kannen hinunter.
Das Essen war fremdartig, und es war köstlich. Er hatte nie besser gegessen. Er war frei. Jake war ein freier Mensch.
Er machte sich über den in Sesam gewendeten Sellerie und den harten Yakkäse und die Gerstenteigtaschen her, ohne sich um das Geschrei zu kümmern, das plötzlich ertönte. Aber irgendwann konnte er es nicht mehr ignorieren. Motorengeräusche ertönten, laute Rufe und Schüsse hallten durch das Tal.
Schreie? Schüsse?
Jake blickte von der Terrasse auf Balagezong.
Männer strömten durch das Dorf und den Laborkomplex, aber sie rannten an den Labors vorbei. Männer mit Narben.
Ihre dunklen Gesichter glühten vor blinder Wut, als sie mit ihren Gewehren unter wildem Geschrei in die Luft schossen.
Jake rührte sich nicht von der Stelle. Jetzt wurden auch hinter den Labors Schreie laut – ein Zeichen, dass sie umzingelt waren und in der Falle saßen. Aber alles was Jake empfand, waren hellsichtige Besorgnis und gelassene Wachsamkeit.
Sen war aufgesprungen und schrie auf die Männer mit den Narben ein. Aber sie achteten nicht auf ihn; sie lachten nur verächtlich und verhöhnten ihn sogar.
Jake verfolgte das Schauspiel ungerührt.
In der Mitte der Meute, am Fuß der Treppe, die zur Terrasse heraufführte, war Julia. Und neben der Amerikanerin war … Chemda. Bloß saß Chemda auch neben ihm am Tisch.
Die andere Chemda kam die Treppe herauf. Sie hatte ein Gewehr, und sie richtete es auf Sen. Ihre Miene war gefasst, entschlossen und ohne jede Gnade.
46
I ch bin Soriya. Chemda ist meine Schwester. Und du …« Das Gewehr war auf Sen gerichtet, der herausfordernd auf der obersten Stufe stand. »Du bist natürlich mein Großvater. Der Mann, der mir das angetan hat.«
Die junge Khmer-Frau nahm ihre Perücke ab, und Jake sah die Narbe auf ihrer kahlen Kopfhaut.
»Als ich ein halbes Jahr alt war.«
Die Narbe war verblasst, fast weiß.
Soriya Tek wandte sich ihren Begleitern zu, den Chinesen mit den Narben, die, ihre Gewehre im Anschlag, auf der Treppe warteten. Es waren die aufmüpfigen Wachen vom hinteren Tor, die Jakes Blut abgepumpt hatten.
»So«, sagte Soriya zu ihnen. »Jetzt bekommt ihr eure Gelegenheit zur Rache. Wie ich euch versprochen habe. Jetzt seid ihr dran.« Ein Schritt nach vorn, eine eindeutige Geste. »Bringt sie um. Alle. Bis auf sie.« Soriya deutete auf Chemda. »Und ihn.« Sie deutete auf Jake.
»Er ist einer von uns. Seht ihr seine Narbe? Ihn verschont ihr. Aber den Rest könnt ihr umbringen.«
Die Männer wirkten unschlüssig. Einige kamen auf die Terrasse herauf, andere blieben zögernd auf der Treppe stehen. Soriya sagte, diesmal lauter: » Ta shi
Weitere Kostenlose Bücher