Bibel der Toten
»Glaubst du etwa, das würde mir Angst machen? Ganz und gar nicht. Ich bereue nichts. Ich schäme mich nicht. Im Gegenteil, ich bin stolz auf dich. Ich wollte das perfekte kommunistische Kind schaffen. Und sieh doch selbst: Es ist mir gelungen. Denn da bist du, frei von Schuldgefühlen und ohne Gnade, von nichts als glasklarer Logik gelenkt. Mein geliebtes Kind. Eine biologische Atheistin.«
»Du hast mich weggegeben. Wie kannst du mich da als dein geliebtes Kind bezeichnen?«
»Wir dachten, du wärst ein Fehlschlag! Du bist in den Wirren nach dem Sturz der Roten Khmer in Anlong Veng verlorengegangen. Ich habe dich völlig aus den Augen verloren und nichts von deiner weiteren Entwicklung mitbekommen, verstehst du, mein liebes Kind? Ich hätte nicht zu hoffen gewagt, dass du überlebt haben könntest – das Baby mit den Anfällen, den heftigen Krämpfen –, doch als ich dann von diesen gnadenlosen Hinrichtungen hörte, diesen ebenso brutalen wie raffinierten Morden, begann ich wieder Hoffnung zu schöpfen, dass du doch noch am Leben sein, vielleicht sogar eine erstaunliche Entwicklung durchgemacht haben könntest. Mein Gefühl sagte mir, dass du kommen würdest, und es war mir unendlich wichtig, dich zu treffen. Damit ich dich mit deiner abergläubischen Schwester vergleichen könnte, die bei diesem Experiment die Kontrollperson war. Damit ich überprüfen könnte, wie du dich entwickelt hast. Und jetzt zu sehen, was aus dir geworden ist, erfüllt mich mit großer Freude. Mein grandioses, wunderschönes Experiment. Meine vervollkommnete, von allem psychischen Ballast befreite, durch und durch gottlose Enkeltochter.«
Soriya bekam von einem der Wachen eine rostige Eisenstange gereicht. Eine Autoachse.
»Ich bin keine Enkeltochter, ich bin nicht einmal eine Frau. Und ein Mann bin ich auch nicht. Ich bin nichts. Du hast mich zu einem Nichts gemacht. Zu etwas kaum mehr Menschlichem. Du hast mich zu einem Monstrum gemacht. Zu einer Missgeburt ohne Brüste. Schau.«
Sie riss ihr Hemd auf. Der Anblick des bleichen Narbengewebes, das dabei kurz freigelegt wurde, ließ Jake zusammenzucken. Eine doppelte Mastektomie: zwei Wunden mehr.
»Als ich achtzehn war, wusste ich nicht mehr ein noch aus. Warum war ich so verhaltensgestört? Was stimmte nicht mit mir? Warum hatte ich das Gefühl, dass etwas nicht mit mir stimmte, dass mir irgendetwas fehlte? Deshalb begann ich mich zu fragen, ob ich vielleicht das falsche Geschlecht hätte. Ich flog nach Bangkok. Und unterzog mich einer Geschlechtsumwandlung.« Mit einem kurzen Seufzer knöpfte Soriya ihr Hemd mit einer Hand wieder zu. »Die Chirurgen schnitten mir die Brüste ab, entfernten mir die Gebärmutter – und gaben mir Hormonspritzen. Testosteron. Und sie rieten mir, wie ein Junge zu gehen. Das sollte mich, hoffte ich jedenfalls, zu einem besseren Menschen machen, zu einer ganz besonderen Art von Kathoey, von Sie-Er.« Sie packte die Eisenstange fester und fauchte ihren Großvater an. »Aber es hat nichts genützt. Wie auch? Ich wurde nur noch aggressiver und wütender. Ich hatte mich vollkommen umsonst selbst verstümmelt. Ich kehrte nach Amerika zurück. Wurde wieder ein Mädchen. Ohne Brüste. Entstellt. Ein Mann ohne Penis. Dann ging ich zur Army. Ich machte mich richtig gut, eine außergewöhnlich kräftige junge Frau. Wegen dieser Testosteronspritzen und Steroide. Insofern brachte das Ganze auch gewisse Vorteile mit sich. Es ermöglichte mir, endlich meinem Ziel näherzukommen, dich zu töten.«
Sens Lächeln war verflogen. Zum ersten Mal sah Jake einen Ausdruck der Verständnislosigkeit in der Miene des alten Manns.
Er setzte zu einer Entgegnung an, aber Soriya schnitt ihm das Wort ab.
»Dreh dich um. Dreh dich verdammt noch mal um. Cheung Ek. Tuol Sleng. Highway Five. Das ist für jeden, der damals sterben musste. Für alle, die von den Kommunisten umgebracht wurden. Für das Land, das du enthauptet hast. Dreh dich um.«
Ein erster Schauder der Angst ließ Sens mundwinkel zittern.
»Findest du wirklich, dass ich den Tod verdient habe …«
Die Eisenstange krachte gegen Sens Hinterkopf. Das Geräusch des berstenden Schädels war breiig, organisch, ein schmatzendes Knacken. Die Hirnmasse spritzte auf die Erde, der zertrümmerte Schädel klaffte auf. Scheußlich. Soriya grinste nur höhnisch und stieß den zuckenden Körper mit einem Tritt in den Abgrund.
»Und jetzt.« Sie ging zu einer der Wachen. »Gib mir deine Waffe.«
Der Mann reichte Soriya seine
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