Bibel der Toten
geworfen hatten. Seinen Freund. Seinen mit Fehlern behafteten, gierigen, ehrgeizigen, zynischen, egoistischen Freund. Der ihn in Anlong gerettet hatte, der ihn – obwohl sich darüber streiten ließe – auch hier zu retten versucht hatte. Der Freund, den Jake ganz beiläufig seinem Schicksal überlassen hatte.
Er wandte sich Julia zu. Bisher hatte sie kein Wort gesagt, aber sie reagierte auf seinen Blick. Sie hob ihr Handy und sagte: »Ich kann uns hier rausholen lassen. Ich stehe schon die ganze Zeit mit Rouvier in Verbindung. Seit unserer Ankunft in Bala habe ich endlich wieder Empfang. Ich habe mehrmals mit ihm telefoniert. Er hat sich für uns eingesetzt; er hat mit seinen Vorgesetzten gesprochen, die wiederum mit verschiedenen europäischen Regierungen Kontakt aufgenommen haben. Er glaubt, die chinesische Regierung möchte auf keinen Fall, dass die Sache publik wird. Vielleicht erklären sie sich zu einem Deal bereit und weisen uns lediglich aus.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber das Militär wird auf jeden Fall in Kürze hier auftauchen. Wenn du den Eingriff also rückgängig machen lassen willst, musst du dich rasch entscheiden. Du hast wirklich nicht mehr viel Zeit.«
Jakes Blick blieb schließlich auf Chemda haften. Auf dem Gesicht, das er nicht mehr lieben konnte.
48
E r ließ sich auf den Operationstisch des Neurochirurgen zurücksinken, der an einen nach hinten gekippten Thron erinnerte. Grelle Lampen beschienen seine Kopfhaut, eine Schwester kramte stumm in einer Schale mit Operationsbesteck. Die OP-Schwester war das einzige Belegschaftsmitglied, das nicht geflohen war. Weshalb war sie bis zum Schluss loyal geblieben?
»Ich werde Ihnen die Narkose selbst verabreichen müssen«, sagte Fishwick vom hinteren Ende des Raums. Er sah Jake mit einem schwermütigen Lächeln an. »Aber keine Angst, ich weiß, was ich tue. Problematisch ist nur die OP. Potenziell zumindest.«
Jake verkrampfte sich vor Anspannung. Er blickte sich in dem leeren, weißen, sterilen Raum um. Chemda war nicht da; sie fühle sich nicht in der Lage, bei der Operation zuzusehen, hatte sie gesagt. Jake konnte es ihr nicht verdenken.
»Wie lange werde ich unter Narkose stehen?«
»Zwei Stunden. Wir dürfen keine Zeit verlieren.«
Zwei Stunden, dachte Jake. Nur zwei Stunden. Und was dann? Die Schreckgespenster scharten sich um die Tür zu seiner Zukunft. Würde er je wieder aufwachen? Und wäre er, wenn er wieder aufwachte, noch bei klarem Verstand? Wollte er die Schuldgefühle überhaupt zurückhaben?
Die Stille, als Fishwick sich die Hände wusch, war unerträglich.
»Reden Sie mit mir«, sagte Jake. »Bitte reden Sie mit mir.«
»Aber gern.«
»Reden Sie einfach. Erzählen Sie mir, was Sie künftig tun werden, wie Sie sich Ihr weiteres Leben vorstellen.«
Fishwick seufzte.
»Kann sein, dass ich Wiedergutmachung betreiben werde … für das, was ich getan habe. Vielleicht kann ich in chinesischen Krankenhäusern arbeiten, Epilepsie mit Neurochirurgie behandeln. Das Verfahren ist diesem hier, äh, sehr ähnlich. Religiöse Visionen und spirituelle Erleuchtungserlebnisse weisen auffallende Ähnlichkeiten mit den neuronalen Vorgängen bei epileptischen Anfällen auf.«
Jake starrte unverwandt in das grelle weiße Licht der OP-Lampen. Nach einigem Nachdenken fragte er:
»Glauben Sie demnach, Religion ist nur eine Art Epilepsie?«
Fishwick blickte auf das Papierhandtuch in seinen Händen hinab.
»Ich weiß nicht … wie bereits angedeutet, sind mir im Lauf der Jahre zunehmend Zweifel an dem ganzen Konzept gekommen.«
»Zweifel. Inwiefern?«
»Wie Sie wissen, war ich einmal ein eingefleischter Marxist. Aber je mehr ich mich mit den Übereinstimmungen zwischen Marxismus und Gesellschaftsformen und Religionen befasste, desto mehr gelangte ich zu der Überzeugung …« Fishwick ließ sich von der OP-Schwester Gummihandschuhe überstreifen. »Ich gelangte zu der Überzeugung, dass die schlimmsten Gesellschaftsformen fast immer die atheistischen sind. Hitlers Deutschland. Maos China. Stalins Russland. Und natürlich die Roten Khmer, Pol Pots Kambodscha, der brutalste Staat überhaupt, der am aggressivsten atheistische. Das Land der Prophezeiung, hm? Das Land ohne Religion. So furchtbar viel Blut.«
»Und …?«
»In nicht einmal hundert Jahren haben atheistische Kommunisten und atheistische Nazis Hunderte Millionen von Menschen ermordet … alle Opfer zusammengerechnet, mehr als jede Religion. Und sie haben es aus
Weitere Kostenlose Bücher