Bibel der Toten
dass Leute hierherkommen, letztes Jahr. Amerikaner.«
Jake kam näher. »Wie bitte?«
»Er sagen …« Tou wandte sich dem alten Hmong zu, auf dessen dunklem Gesicht ein Lächeln lag. Tou wiederholte die Frage, und noch einmal gab Yeng seine Antwort; dann übersetzte Tou: »Yeng sagt, er war Fahrer für sie. Viele Tage. Er kennt Gegend, die Bomben. Deshalb nehmen sie ihn. Letztes Jahr. Amerikaner. Fishhook. Fishwork. Oder so ähnlich. Weiß nicht mehr genau.«
»Sie sind hergekommen, um sich die Krüge anzusehen?«, fragte Jake.
»Ja! Letztes Jahr. Schau. Hier. Yeng sagt, das ist, was sie finden. Und das ist, was ich Mr Samnang sagen. Er war traurig, hat Angst bekommen.«
Er deutete in einen der Krüge. Die schlichten, etwa zwei Meter hohen Behältnisse waren aus einem groben Gestein, das sich rau, fast stachlig anfühlte. Jake beugte sich über die Öffnung des Krugs und spähte in sein muffiges Inneres. Seine Augen brauchten eine Weile, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen.
Und dann starrten ihm vom Boden des Krugs mehrere menschliche Schädel entgegen. Neben ihnen war ein kleiner Haufen Knochen aufgeschichtet, Rippen oder Oberschenkel, vielleicht auch Beckenknochen, die aussahen wie verkohltes Holz.
In den Schädeln waren Löcher. Wie in den von den Knüppeln der Roten Khmer zertrümmerten Schädeln in Cheung Ek. Aber bei diesen Totenköpfen waren die Löcher kleiner, und sie befanden sich vorn in der Stirn. Und außerdem waren diese Schädel viel, viel älter. Jake war zwar kein Wissenschaftler, aber aus ihrem fortgeschrittenen Verfall ging deutlich hervor, dass sie sehr alt sein mussten. Allerdings schienen sie in irgendeiner Form konserviert worden zu sein. Vielleicht, weil die Krüge mit Deckeln verschlossen gewesen waren? Jedenfalls hatte er gelesen, dass einige der Krüge bis vor kurzem Deckel hatten. Möglicherweise waren die Deckel also erst in jüngster Vergangenheit entfernt worden; von den Roten Khmer oder von diesem mysteriösen Amerikaner. Und daraufhin waren die archaischen Überreste zum Vorschein gekommen.
Ein interessanter Fund. Aber trotzdem waren es nur ein paar alte Knochen und Schädel. Weshalb könnte die Wiederentdeckung dieser Knochen Samnang so stark aufgewühlt haben, und warum hatte sie zu seiner Ermordung geführt?
Chemda beschäftigte offensichtlich dieselbe Frage. Sie spähte in die Krüge und redete erst auf Englisch mit Tou und wechselte dann ins Französische, vielleicht auch in Khmer. Jake konnte ihrer Unterhaltung jedenfalls nicht folgen.
»Es gibt alle möglichen Theorien, was diese Krüge angeht«, sagte Chemda atemlos, während sie sich Jake wieder zuwandte. »Man nimmt zum Beispiel an, dass es sich bei den Krügen um Urnen handelt, um Bestattungsurnen einer Kultur, über die wir bisher so gut wie nichts wissen. Aber das wäre an sich nichts Außergewöhnliches. Ich kann nicht verstehen, warum die Kommunisten so fasziniert davon waren. Oder auch Samnang. Sie sind doch nur der Beweis für eine alte Theorie. Tou … Tou …« Sie drehte sich zu ihrem jungen Führer um. Er stand scheu, verunsichert lächelnd, in der friedlichen Landschaft mit dem einsamen Wasserbüffel, der immer noch apathisch in ihre Richtung stierte.
»Tou, frag Yeng, was die Roten Khmer hier gefunden haben, warum sie dieser Stätte solche Bedeutung beigemessen haben – wesentlich mehr als allen anderen?«
Tou zuckte mit den Achseln. »Ich weiß schon. Er hört Amerikaner reden, er versteht ein wenig Englisch.«
»Und?«
»Vor tausend Jahre. Viele Menschen waren hier, Khmermenschen, Schwarze Khmer. Sie haben … viel Krieg, viele Tote, viel Krieg. Und dann … dann … töten sie sich selbst, sie morden selbst. Sie bringen sich um und verbrennen Knochen.«
An dieser Stelle schaltete sich Jake ein. »Woher wussten sie das? Die Roten Khmer? Beziehungsweise der Amerikaner?«
Tou brachte mit gespitzten Lippen sein Nichtwissen zum Ausdruck, dann drehte er sich um und stellte dem alten Hmong, der inzwischen nervös zum Horizont schaute, auf Khmer eine Frage. Der alte Mann zuckte mit den Achseln und murmelte etwas. Tou übersetzte.
»Wir wissen es nicht. Aber Leute im Krug waren Khmer. Und das Loch in Kopf … im Schädel. Sie waren … ich glaube, es gibt eine Geschichte. Es gibt Khmer-Fluch … die Schwarzen Khmer.«
Yeng unterbrach den Jungen und deutete aufgeregt zum Horizont. Aus seiner Miene sprach tiefe Besorgnis. Jake drehte sich um.
Geräusche.
Die stille Landschaft war nicht mehr
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