Bibel der Toten
warum waren so viele der Hände missgestaltet? Das hatte sich Julia schon damals gefragt, und genauso fragte sie es sich jetzt wieder. Warum die Missgestaltung? Bei vielen der Hände von Gargas waren Finger entweder abgetrennt oder krumm. Niemand kannte den Grund dafür. Seit man die Höhle im 19. Jahrhundert entdeckt hatte, waren viele Theorien für diese »verstümmelten« Hände aufgestellt worden – ein Zeichenkodex für die Jagd, die Folge von Krankheiten, Erfrierungen oder rituellen Verstümmelungen –, aber keine war wirklich überzeugend.
Das Rätsel bestand weiter. Schmerzlich ungelöst.
Die Hände waren es gewesen, die Julias Schicksal besiegelt hatten. Sie konnte sich noch gut erinnern, wie sie in der Höhle von Gargas gestanden hatte, verlegen und mit weichen Knien, pubertär hingezogen zu ihrem Führer, einem jungen französischen Studenten. Damals, an diesem Ort, hatte sie beschlossen, diese kostbaren unterirdischen Grotten zu ihrer Welt zu machen. Das war der Moment gewesen, in dem sie sich vorgenommen hatte, Archäologie zu studieren.
Und die Rätsel zu lösen.
Zunächst waren ihre Eltern von ihrem spontanen Entschluss ganz angetan. Ihre Tochter hatte eine interessante Berufung gefunden! Doch als die pubertäre Schwärmerei zu studentischer Wirklichkeit wurde, änderte sich ihre Einstellung. Irgendwann hatte Julia ihre Eltern mit der Ankündigung schockiert, dass sie nicht nur Michigan, sondern auch die USA zu verlassen beabsichtige, um an der McGill University in Montreal zu studieren. Zum Teil lag das, wie sie ihnen geduldig erklärte, daran, dass es an der McGill ein hervorragendes archäologisches Institut gab. Außerdem waren in Quebec, wo sie unter lauter französischsprachigen Kanadiern lebte, die Voraussetzungen optimal, um Französisch zu lernen.
Aber es hatte für ihren Entschluss auch andere Gründe gegeben, die sie jedoch für sich behielt. Sie hatte sich schon seit langem gewünscht, irgendwo zu leben, wo es anders – authentischer – war, in einer Umgebung mit Kultur und Geschichte und europäischem Flair – auf jeden Fall mit Flair. Sie wollte endlich der erstickend langweiligen Plattheit des Mittelwestens entfliehen, dem langweiligen verschneiten Niemandsland an der Grenze, den gelangweilten Kids, die in der langweiligen Mall neben Meijer’s aus lauter Langweile langweiliges Meth nahmen. Und noch eine Erinnerung an Michigan gab es, die anzusprechen sie nicht über sich brachte. Auch die hatte sie von zu Hause fortgetrieben.
Und so war es irgendwann so weit, dass sie ihren Vorsatz in die Tat umsetzte. Sie war nach Montreal gezogen, in ein affenkaltes Apartment, in eine wunderschöne Stadt, in der fette Amerikaner Französisch sprachen und Pommes mit frittiertem Käse aßen.
Die Erinnerungen verblichen, aber nur kurz. Julia blickte zu den Händen von Gargas auf. Flehentlich, tragisch, verstümmelt. Schuldbewusst. Und dann huschten ihre Gedanken wieder zurück zu dem Tag, an dem sie von Montreal nach London geflogen war.
Hatten ihre Eltern schon schwer an der Entscheidung ihrer Tochter zu kauen gehabt, Michigan zu verlassen, hatte ihr Entschluss, Nordamerika ganz den Rücken zu kehren und in London zu promovieren, sie auf eine harte Probe gestellt. Und an diesem Punkt hatte Julia ein richtig schlechtes Gewissen bekommen, die Schuldgefühle eines Einzelkinds, das seine Eltern zurückließ, um Karriere zu machen, statt ihnen Enkelkinder zu schenken.
Verstärkt wurden Julias Skrupel bezüglich dieser Entscheidung noch durch den Umstand, dass sich ihre berufliche Karriere eher schleppend entwickelte. Sie war auf einer mittelmäßigen Stelle an einem mittelmäßigen Londoner College gelandet. Danach waren die wöchentlichen transatlantischen Telefonate mit ihren Eltern bald zur Tortur geworden, ausgelöst durch die unausgesprochenen, aber deshalb um so tückischeren Vorwürfe, denen sie sich dabei ausgesetzt fühlte und auf die sie immer wieder nur trotzig entgegnen konnte: Nein, ich komme nicht nach Hause; ja, ich bin weiterhin »nur am Unterrichten«; nein, ich habe keinen Verlobten; nein, es besteht keine Aussicht auf Enkel. Wiedersehen, Dad, Wiedersehen, Mom.
Wiedersehen.
Seufzend schüttelte Julia den Kopf.
Annika stellte eine Schale mit Keksen auf den Tisch und sagte:
»Du musst dir über eines klar werden, Julia. Ghislain ist sehr frustriert. Frustriert und desillusioniert, aber auch zu allem entschlossen.«
Julia wusste, dass sich Annika und Ghislain schon lange
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