Bibel der Toten
ob er weiter in sie dringen sollte. Deshalb blickte er geradeaus nach vorn, auf den Weg, auf die sich öffnende Landschaft.
Vor ihnen breitete sich eine weite Ebene aus. Der Anblick, der sich ihnen im grellen Sonnenschein bot, war von schmerzender Schönheit: flache, schwach gekräuselte Seen, leise säuselnde Bambushaine, Prozessionen fügsamer brauner Rinder, gehütet von gelangweilt ihre Weidenruten schwingenden Jungen, und in der Ferne niedrige grüne Hügel.
Selbst aus zehn Kilometer Entfernung konnte Jake sehen, dass die Hügel von Bombenkratern übersät waren, regelmäßige Kreise schattiger Vertiefungen. Das Gebiet hier war tatsächlich »in den Arsch gebombt worden«, wie Tyrone es ausdrückte, und jetzt schien es eine dem Tod entronnene Landschaft, ein Land im Streckverband, das mit seinen schmerzlichen Erinnerungen vor sich hin dämmerte – aber noch lebte. Sogar die Landschaft gehörte zu den Überlebenden dieses Kriegs.
Chemda holte tief Luft: »Wie ich dir schon erzählt habe, wurde meine Großmutter von den Roten Khmer ermordet, wahrscheinlich hier irgendwo, auf der Ebene der Tonkrüge. Aber niemand kann mir sagen, wie sie ums Leben kam. Vielleicht durch einen Blindgänger.« Nach kurzem Zögern fügte Chemda hinzu: »Aber ich weiß es nicht, ich weiß es einfach nicht. Und das, Jake, ist das eigentliche Krebsgeschwür in Kambodschas Vergangenheit. Dieses Nichtwissen. Ah. Ich weiß nur, dass sie nicht hier ist. Niemand ist hier, alle sind verschwunden, einfach verschluckt. Aufgelöst. Vielleicht wurde sie nicht einmal von einer Bombe zerfetzt … vielleicht hat sie nur ihre Arbeit gemacht, und die Revolutionäre Organisation, die Roten Khmer, sind nach Phnom Penh und Angka zurückgekehrt; vielleicht haben sie Großmutter nach Cheung Ek gebracht und ihr mit einer Eisenstange den Schädel eingeschlagen. Denn so haben sie die Leute umgebracht, Jake. Sie wollten keine Munition vergeuden – sie haben den Gefangenen einfach mit Autoachsen und Knüppeln die Schädel zertrümmert … zwei Millionen Schädel. Babys und Kinder wurden gegen Bäume geschmettert. Babys gegen Bäume geschmettert.«
Ihre Stimme war trocken, brüchig; zum ersten Mal versagte sie ihr. Ihre mühsam gewahrte Fassung geriet ins Wanken. Sie schloss die Augen, öffnete sie wieder und schüttelte den Kopf, und nach längerem Schweigen fuhr sie fort: »Wie kann jemand so etwas tun? Wie konnte jemand so etwas tun? Und es war nicht einmal der Feind, dem sie es angetan haben. Es waren ihre eigenen Landsleute, die sie umgebracht haben. Sie haben ihre eigenen Kinder zerschmettert. Das ist der Grund, weshalb ich wissen will, was mit meiner Großmutter passiert ist und, ja, auch mit dem Rest meiner Familie. Wenn es mir gelingt, das herauszufinden, kann ich vielleicht auch verstehen, was mit meinem Land geschehen ist.« Sie hielt kurz inne, bevor sie weitersprach: »Areal Nummer drei befindet sich dort drüben. Die rotweißen Blöcke sind MAG-Warnungen. Sie wurden von der Mines Advisory Group aufgestellt, damit niemand das Gelände hinter diesen Blöcken betritt. Sie bedeuten, dass dieses Gebiet nicht von Bomben geräumt wurde. Ein falscher Schritt und – wumm.«
Jake schaute aus dem Autofenster. Über die idyllische grüne Wiese, die man durch die Bäume hindurch sah, waren riesige Steinkrüge verstreut. Man konnte es nicht anders nennen: riesige Krüge, aus uraltem, grobem grauem Stein gehauen.
»Tou.« Chemda beugte sich vor und tippte dem jungen Lao auf die Schulter. »Wo ist das Areal mit den Krügen, das die Roten Khmer entdeckt haben? Ist es weit von hier?«
»Nicht so weit«, antwortete Tou. »Heißen Areal neun. Aber Straße sehr, sehr schlecht. Zwei Stunden. Vielleicht drei. Einzige Stätte, die nicht berührt.«
Die Straße wurde, auch wenn es kaum vorstellbar war, noch schlechter. Inzwischen war sie nicht mehr als ein gerade verlaufender Schlammstreifen, der nur zufällig die Breite eines Fahrzeugs zu haben schien. Der Jeep ächzte, holperte und schaukelte. Yeng rotzte, lachte und redete auf Hmong.
»Ich habe die Überreste gesehen«, sagte Jake. »Die Schädelpyramiden in Cheung Ek.« Er zögerte. Sollte er weiterbohren? »Grauenhaft. Aber … aber das muss doch alles schon vor deiner Geburt passiert sein?«
»Ja«, sagte Chemda ruhig. »Ich weiß von den Gräueln nur aus Erzählungen. Mein Vater hat den Völkermord nie verkraftet. Er hat in dieser Zeit sehr viele Verwandte verloren. Das müsstest doch gerade du verstehen
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