Bibel der Toten
ihrem Kopf herrschte wildes Durcheinander. So gut es ging, versuchte sie sich wieder zu beruhigen. Wahrscheinlich waren es nur ihre tiefsitzenden Ängste, die sie derart übertrieben reagieren ließen – bestimmt hatte sie sich alles nur eingebildet, und jetzt war es weg. Sie konnte also unbesorgt an ihren Computer zurückkehren.
Vom Garten drang ein leises Scheppern herein.
»Hallo?«, rief Annika ängstlich in die Stille.
Es war so dunkel draußen, fast mondlos. Ein verlassenes Dorf, in dem es keine Straßenbeleuchtung gab. Eine Dunkelheit, so tief, dass sie einem ohne weiteres etwas vorgaukeln konnte. Doch da – da! – wieder dieses Geräusch. War es nur der Wind, der an der alten Tür rüttelte – oder etwas, das zwischen den verfallenen Mauern lauerte, vielleicht im unbewohnten Nachbarhaus?
Annika beugte sich weiter aus dem kleinen Fenster.
» Bonsoir? Hallo?« Waren diese Worte nur in ihrem Kopf? Nichts mehr war gewiss. »Ist da jemand?« Sie kam sich lächerlich vor, als sie das rief. Eine betrunkene alte Frau, die sich alles Mögliche einbildete und mit der Stille redete; wie tief würde sie noch sinken.
Stille. Und noch mehr Stille. Annika zog den Kopf ein Stück zurück.
Da war das weiße Gesicht wieder. Es schoss mit unglaublicher Schnelligkeit auf das Fenster zu.
Annika stockte vor Schreck der Atem.
Eine dunkle Hand schnellte vor. Packte sie.
Wer war das?
Was war das? Eine wütende Fratze, von animalischer Wut verzerrt, mörderisch geifernd. Bestialisch. Schamlos. Und jetzt wand sich der Körper dieser weißgesichtigen Kreatur durch das offene Fenster, drängte sie zurück, hielt ihr mit ungeheuer kräftigen Händen den Mund zu, begrub sie unter sich. Annika wurde anscheinend gleichzeitig an der Kehle und an Armen und Beinen gepackt; sie wurde von etwas unerwartet und entsetzlich Starkem festgehalten. Wie von einem Monster. Einem Monster aus ihrer Kindheit.
Direkt unter dem Kinn bohrte sich ein stechender Schmerz in ihren Hals. Sie hatte eine Spritze bekommen. Sofort spürte sie, wie ihr die Kälte einer Lähmung in alle Glieder drang. Ihr Verstand dagegen blieb völlig klar; sie war weiterhin in der Lage, alles wahrzunehmen, zu denken, sich zu fürchten – und zu spüren, wie ihr Herz fast zersprang vor Angst.
Annika versuchte zu schreien, aber die Lähmung hinderte sie daran. Sie spürte Schmerzen, heftige Schmerzen. Sie wurde von diesem brutalen mutierten Wesen, dieser Bestie von Gévaudan, über den Boden geschleift. Sie wurde mit solcher Kraft an ihren Haaren aus dem Zimmer gezerrt, dass sie fast aus der Kopfhaut gerissen wurden.
Sie stieß mit der Hüfte gegen einen Tisch; jetzt waren sie in der Küche, ihre Ellbogen schlugen schmerzhaft gegen den Kühlschrank, den Herd, die Tür. Die Küchentür. Licht blendete ihre Augen, und dann mehr Licht, schließlich spürte sie Kälte und Dunkelheit. Sie waren im Freien. Sie wurde über die Eingangstreppe geschleift und weiter, immer weiter. Immer an den Haaren.
Der Angreifer war durch nichts aufzuhalten. Annika wurde den Gartenweg hinuntergeschleppt, vorbei an den Mülltonnen, vorbei an dem kleinen Blumenbeet und auf die unbefestigte Straße hinaus, die auf die Cham des Bondons führte. Scharfe, kalte Himmel sangen das Lied der nacht; über ihr drehte sich der Steinbock.
Wohin ging es? Zu den Megalithen? Wohin sonst? Sie, es, dieses weißgesichtige Etwas, dieses Monster schleppte Annika zu den Steinen. Wieder versuchte sie zu schreien; wieder hörte sie keinen Laut. War sie taub geworden?
Nein. Sie war nicht taub. Sie konnte den hechelnden rauen Atem der Bestie hören, ihr tierisches Keuchen. Sie konnte die Geräusche hören, die ihr Körper machte, als er an den Haaren über den nassen Rasen geschleift wurde.
Die Steine warteten.
Der Stein, der ihrem Haus am nächsten stand, war einer der größten, Der Soldat , drei brutale Meter undurchdringlichen Granits, eine schwarze Säule im Schwarz der Nacht; sie sah ihn auf sich zukommen. Der Stein stand da wie ein Henker, mittelalterlich; mit seiner fürchterlichen schwarzen Kapuze wartete er nur darauf, seiner stummen Pflicht nachzukommen. Das Monster legte Annika zurecht. Er, sie, es – das erbarmungslose Wesen riss Annikas Kopf nach hinten. Die Bestie würde ihren Kopf gegen den Megalith schmettern. Einfach ihren Schädel gegen den harten Stein dreschen, das Cranium zertrümmern. Die Vorderseite des Craniums. Ja, natürlich, was sonst.
In ihren letzten Momenten dachte Annika an die
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