Bibel der Toten
Polizei gemeldet und eine Beschreibung des möglichen Mörders zu Protokoll gegeben, oder zumindest die Beschreibung einer Person, die dem Nachbarn in der Nacht, in der Ghislain ermordet worden war, in der Nähe seines Hauses aufgefallen war. Der Zeuge hatte seinen Hund ausgeführt und dabei hinter einer Hecke eine seltsame Gestalt gesehen. Weshalb trieb sich jemand an einem so dunklen und regnerischen Abend auf einem Feld herum?
Die Beschreibung des möglichen Mörders war jedoch äußerst bizarr: klein und schlank, höchstwahrscheinlich eine junge Frau; langes dunkles Haar, kreideweißes Gesicht. Konnte eine Frau so etwas getan haben? Es war schwer vorstellbar. Aber zweifellos war da draußen noch etwas anderes. Etwas Stärkeres, Fremdartigeres, Brutaleres, als die Polizei sich vorstellen konnte. Und weitere Menschen würden sterben. Annika musste beichten, sie musste gestehen, was sie wusste – bevor noch mehr Morde geschahen, bevor alles noch schlimmer wurde.
Annika blickte sich im Zimmer um, als sie mit dem Weinglas in der Hand an ihren Schreibtisch zurückkehrte: die Bilder aus den eiszeitlichen Höhlen, die stummen verstümmelten Hände von Gargas, der großartige Salon Noir von Niaux.
Mit einem Mal erschien ihr dieser Grundbestandteil ihres Lebens fast demütigend und beleidigend. Diese Bilder, diese Erinnerungen waren einmal schlechthin alles für sie gewesen – wirklich alles –, aber jetzt war ihr Lebenswerk, die endlose Plackerei, die unablässigen Lügen und die kinderlose Reise, auf die sie sich mit Ghislain begeben hatte – jetzt war das alles nur noch eine historische, eine ideologische und eine sehr reale Sackgasse: Es führte im wahrsten Sinn des Wortes in den Tod.
Ghislain war aufgeschlitzt worden wie der Auerochse von Lascaux mit seinen auf den Boden quellenden Eingeweiden. Und wenn Annika nicht endlich alles beichtete, würde noch mehr Menschen ein Schicksal wie das von Ghislain ereilen. Es bestand kein Grund, diese Dinge auch nur einen Augenblick länger zu vertuschen.
Mit einer unsteten Hand stellte sie das Glas ab und zog den Schreibtischstuhl heraus, um sich wieder zu setzen und ihren E-Mail-Account zu öffnen. Doch kaum hatte sie die ersten Wörter getippt, stockte sie erneut. An der Wand bewegte sich ein großer Schatten. Er stammte von einer Motte, die ins Zimmer geflogen sein musste, bevor sie das Fenster geschlossen hatte, und jetzt saß das Insekt im Lampenschirm fest und schlug mit seinen kleinen Flügeln verzweifelt um sich.
Der Todeskampf der Motte brachte das Licht an den Wänden zum Flackern und erweckte die Bilder, die dort hingen, zum Leben: die Hände von Gargas öffneten und schlossen sich und zeigten ihre abgetrennten Finger; die sterbenden Jungen von Addaura wanden sich unter den Augen von Männern mit bedrohlichen Schnäbeln auf dem Boden.
Annika versuchte weiterzutippen, weiterzuschreiben. Aber die gefangene Motte war so verzweifelt, so panisch.
Genug. Ihre Gedanken entwirrten sich, die Tränen waren nicht mehr fern. Sie musste die Motte befreien, diese letzte Ablenkung beseitigen und dann zu ihrem Computer zurückkehren und alles niederschreiben.
Sie ging zu der Lampe und fasste unter den Schirm. Ein leichter Schauder durchfuhr sie, als sie die wie wahnsinnig um sich schlagenden Flügel der Motte berührte; nur zu gut erinnerte sie sich noch an ihre Kindheitsängste vor Motten, die sich im Haar verfingen oder in die Münder Schlafender flogen und sie mit ihren staubigen Flügeln erstickten.
Eine absurde Phobie. Vorsichtig die Hände aneinanderlegend, fing Annika das panische Etwas zwischen ihren Fingern ein und hielt es fest, ohne es zu töten. Langsam ging sie zum nächsten Fenster, einem kleineren alten Butzenscheibenfenster; es war nicht verriegelt. Sie musste nur mit dem Ellbogen gegen den Griff drücken, dann konnte sie die Motte in die nacht entlassen. Ganz einfach.
In der Dunkelheit draußen huschte ein weißes Gesicht vorbei.
Der Schock war arktisch. Ihr wurde schlagartig eiskalt. Was war das? Was hatte sie gerade gesehen? Auf jeden Fall ein Gesicht. Es war nur wenige Meter entfernt gewesen, ein kreidebleiches Gesicht, mit durchdringenden Augen, kaum zu erkennen in der Dunkelheit, wie ein Geist. Aber es war sofort wieder verschwunden.
Hatte sie es überhaupt wirklich gesehen? War es tatsächlich da gewesen? Sie hatte keine Ahnung. Vielleicht ja. Vielleicht nein. Sie war ziemlich betrunken. Möglicherweise hatte sie sich alles nur eingebildet. In
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