Bibel der Toten
angefangene E-Mail, die in ihrem Laptop wartete. Im Licht flimmerte. Unvollendet. Alles, was sie in ihrem Leben getan hatte, war vergeblich gewesen; selbst dieser letzte Versuch, ehrlich zu sein. Die ersten heißen Tränen flossen über Annikas Gesicht, als sie zum Himmel hinaufstarrte, während das Monster ihren Kopf so weit nach hinten zog, wie es ging. Es war bereit. Bereit, ihre Stirn gegen den Stein zu schmettern. Ihren Schädel zu zertrümmern und ihr lebendes Hirn zu Brei zu zerquetschen.
Annika weinte um das Ende ihres Lebens. Die Sterne über den Menhiren waren wie eine Million Glühwürmchen in einem eiskalten, dunklen Dschungel.
15
D ie Straße, die aus Phnom Penh führte, die einstige Straße der Geister, war jetzt eine Kavalkade Amok laufenden asiatischen Notbehelfskapitalismus: Fahrradrikschas und qualmende Busse, röhrende Tuk-Tuks und wütend hupende, an improvisierten Tankstellen vorbeirauschende Limousinen, wo abgerissene Typen aus aufgehängten Glasbehältern geklautes Benzin abfüllten und verkauften. Die Flüssigkeit in den großen, auf dem Kopf stehenden Flaschen war blutrot und uringelb. Jake musste sofort an mit dem Kopf nach unten hängende verblutende Männer denken.
»Ja«, sagte Ty. »Versuchen wir’s mit der National, der neuen in Abu Dhabi.«
Tyrone saß neben Jake auf dem Rücksitz des Taxis, aber Ty sprach offensichtlich mit jemandem in Jakarta. Oder Sydney. Oder Hongkong. Er war am Quatschen und Verhandeln, Hökern und Charmieren.
Jake beneidete Tyrone um seine Beziehungen und seine rücksichtslosen Ambitionen fast genauso sehr, wie er ihn um seine Kriegserfahrungen und diese distinguierte Kriegsmüdigkeit beneidete. Klar war ich in Bosnien, hab dort so alles Mögliche erlebt, auch mal ein menschliches Hirn auf der Straße gesehen. Manchmal fragte sich Jake, ob Tyrone ganz bewusst das Image des zynischen, kriegsmüden Korrespondenten angenommen und seine Persönlichkeit ganz gezielt diesem Klischee angepasst hatte.
Auf jeden Fall machte Tyrone McKenna diesen Job schon lang genug, um tatsächlich zum Inbegriff dieses Stereotyps geworden zu sein. Der abgebrühte Kriegsreporter, der jede Menge haarsträubender Horrorstorys aus den Krisengebieten rund um den Globus auf Lager hatte.
Jake war froh, dass Ty bei ihm war; denn er selbst war nicht so abgebrüht. Er hatte richtig die Hosen voll.
»Und versuchen wir es auch bei Tamara. Ja. Das ist die neue Redakteurin beim Observer Magazine. War übrigens mit Marcus Dorell im Bett – schon gehört?«
Um seine Nerven unter Kontrolle zu bekommen, richtete Jake seine Kamera auf die Motive hinter dem Autofenster und machte Fotos.
Er wollte nicht an das bevorstehende Treffen mit der Spinnenhexe von Skuon denken. Das Ganze hatte etwas zutiefst Gruseliges, wie ein billiger Zeichentrickfilm, der plötzlich zum Leben erwachte. Er beugte sich weit aus dem Taxi und fotografierte einen protzigen, knallbunten buddhistischen Tempel, der umgeben war von dicken, schwarzen, kakerlakenhaft glänzenden Toyota-SUVs. Gangsterautos.
Inzwischen hatten sie die Außenbezirke Phnom Penhs erreicht und fuhren am Flughafen vorbei. Wahllos verstreute Betonbauten säumten die glühend heiße, unaufhaltsam verfallende Straße; ein mit violetten Ballons geschmückter Handyshop stand neben einem Metzgerstand mit drei rosafarbenen Schweinsköpfen auf der Verkaufstheke – und dann wurden die ersten staubig glitzernden Reisfelder sichtbar.
Jake war froh, dass sie die Stadt endlich hinter sich ließen. Das Risiko, beschattet zu werden, ohne es zu merken, verringerte sich jetzt deutlich. In der Stadt vermutete er in jedem Fahrzeug einen Polizisten, der ihn festnehmen wollte, oder einfach jemanden, der ihn kaltmachen wollte. Aber sobald sie einmal aus Phnom Penh raus waren, konnte Jake genau sehen, wer ihnen, wenn überhaupt, folgte.
Hinter ihnen war niemand.
Er spürte, wie er allmählich ruhiger wurde, und begann sich in Gedanken mit Chemda zu beschäftigen, die für das Rote-Khmer-Tribunal arbeitete, das nicht weit von hier in einem großen Gebäude in der Nähe des Flughafens untergebracht war. Tag für Tag gestanden dort eine Handvoll alter Männer, hunderttausend kleine Kinder umgebracht zu haben – fünf Tage die Woche, acht Stunden am Tag. Tagsüber hatte sich Chemda mit den gerichtlichen Angelegenheiten des UN-Tribunals und den Akten über den Tod Professor Samnangs beschäftigt; danach hatte sie mit Jake bis tief in die Nacht hinein telefoniert. Jake hatte
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