Bibel der Toten
hatte. Tyrone hörte zu essen auf.
»Die Neang Kmav von Skuon?«
»Was ist die Kmav? Was ist Skuon?«
Tyrone wirkte für seine Verhältnisse bestürzt. »Skuon ist eine kleine Stadt nicht weit von hier. Dort essen sie Spinnen. Taranteln.«
»Was?«
»Und die Neang Kmav ist die Schwarze Frau, eine berüchtigte Wahrsagerin, die dort lebt.« Tyrone schüttelte den Kopf. »Hört sich zwar an wie irgend so eine bescheuerte Fantasy-Story, aber das … das ist wirklich übel.«
»Was …«
»Sie ist eine extrem mächtige Zaubererin, eine dieser Khmer-Schamaninnen, die von Thai-Generälen, malaysischen Sultanen und chinesischen Milliardären konsultiert wird. Jake, das ist die Spinnenhexe von Skuon, von der wir hier reden. Die Spinnenhexe von Skuon .« Er blickte in Jakes bestürztes Gesicht. »Aber das ist alles kein Grund, gleich in Panik zu geraten. Wenn sie dich in einen Frosch verwandelt, gibt das wenigstens eine klasse Schlagzeile.«
14
D ie Luft über der Cham des Bondons war ruhig und kalt. Die Sterne wachten über die Menhire. Und über Annikas Häuschen in dem verlassenen Dorf. Vayssière.
Annika saß mit einem Glas Wein neben sich in ihrem niedrigen Wohnzimmer über ihren Laptop gebeugt und tippte hektisch.
Ihre Finger hielten inne. Sie kniff die Augen zusammen. Die alte Tischlampe mit dem zitronengelben Seidenschirm erfüllte den Raum mit warmem, gedämpftem Licht. Der Schein des Bildschirms war hart und hell und stach in ihren Augen.
Oder war dieses Stechen eine Folge der Tränen? Annika weinte nur selten. Sie war stolz auf ihre wissenschaftliche Rationalität; sie war stolz auf ihren nüchternen, sachlichen Verstand. Aber nach so langer Zeit zu beichten, rührte an tiefe und starke Gefühle. Es war sowohl schmerzhaft als auch erleichternd. Denn ehrlich zu sein war sehr schwer. Deshalb trank sie auch. Sie musste sich Mut antrinken, um es über sich zu bringen. Das Geflecht aus Lügen wegzureißen.
Die Jahre der Vertuschung und der Komplizenschaft mit Ghislain hatten zur Folge, dass die Täuschung ein Teil von ihr geworden, scheinbar untrennbar mit ihrem Wesen verwachsen war. Sie war wie einer dieser traurigen alten Bäume auf der Cham: einer dieser Bäume, die zu nah an einem Stacheldrahtzaun wuchsen, sodass sie schließlich um den Stacheldraht herumwuchsen und ihn langsam und unter Schmerzen in sich einschlossen, bis die peinigenden Stacheln ein Teil des Stamms wurden. Aber jetzt hielt sie es nicht mehr aus. Sie musste die Lügen herausreißen, sonst brachten sie sie noch um.
Ein weiterer Schluck Wein. Ein Côtes du Rhône.
Dann begann sie wieder zu tippen. Eine minute oder länger. Sie konnte sehr gut tippen, selbst mit einer Flasche Rotwein intus. Doch jetzt kam sie zum entscheidenden Punkt. Das erforderte eine Pause. Eine bedeutungsvolle Pause. Und ein tiefes Atemholen.
Annika schaute aus dem kleinen offenen Fenster des Wohnzimmers auf die verlassene Cham hinaus. Die fernen Umrisse der Megalithen sahen aus wie viktorianische Gelehrte, schwarz gekleidet und tief in Gedanken versunken. Der kühle Herbstwind, der durchs Fenster hereinwehte, ließ sie frösteln.
Werwölfe. Die Werwölfe der Margeride. Manchmal fragte sie sich, was eigentlich genau da draußen war. Dass es etwas Schreckliches war, wusste sie. Alles wusste sie zwar nicht, aber doch genug; und das musste sie beichten, bevor es zu spät war. Einfach die Wahrheit erzählen. Denn die Wahrheit war erschreckend genug, erschreckender als jeder Werwolf.
Aber zuerst – ein weiterer Schluck Wein. Ein bisschen mehr Mut. Eine weitere Pause.
Sie stand auf, ging ein paar Schritte und lehnte sich leicht schwankend ans Fenster. Sie blickte in das Dunkel hinaus. Und wartete. Worauf? Auf den Tod? Oder Schlimmeres?
Der Wind beantwortete ihre Fragen, der kalte, kalte Wind und sonst nichts. Fröstelnd schloss sie das Fenster, und aus ihrem Herz schoss blankes Entsetzen in ihre Kehle: Entsetzen über das Gesicht, das sie in der Fensterscheibe sah.
Doch dann musste sie fast lachen über ihre Reaktion. Es war sie selbst, ihr Spiegelbild, das sie im Fenster gesehen hatte; sie war vor ihrem eigenen Spiegelbild erschrocken. Das Wohnzimmer dahinter wurde ebenfalls von der dunklen Fensterscheibe reflektiert.
Sie betrachtete kurz ihr alterndes Gesicht. Wie hätte sie es selbst beschrieben? Wie beschrieb man ein Gesicht? Wie genau konnte man mit einem einzigen kurzen Blick etwas erfassen?
Ein paar Tage zuvor hatte sich ein Nachbar Ghislains bei der
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