Bibel der Toten
Klimpern; ihre Fingernägel waren lang und sorgfältig lackiert. Dann deutete ihre Gastgeberin auf eine große Platte mit riesigen schwarzen Spinnen, die auf einem gläsernen Couchtisch vor ihr stand.
Jake lehnte dankend ab, aber gegen ein Glas Wasser aus einem großen Krug hatte er nichts einzuwenden. Die armreifbehangene Spinnenhexe musterte ihn eine Weile. Dann lächelte sie und gähnte, als wäre sie zu beschäftigt und wichtig, um sich für ihre Besucher zu interessieren; ihre linke Hand verharrte kurz über der Platte und pickte schließlich eine große Tarantel von dem Haufen.
Zuerst knabberte sie vornehm an einem Spinnenbein. Doch dann schob sie sich den ganzen dicken, fetttriefenden Thorax der Spinne in den Mund und sah Jake unverwandt an. Während sie mit offenem Mund darauf herumkaute, konnte er die speichelglänzende Pampe aus schwarzem Spinnenfleisch zwischen ihren grellrot geschminkten Lippen und den gelben Zähnen deutlich sehen.
Heftiger Ekel krampfte ihm den Magen zusammen. Ihm wurde übel. Vielleicht war er dehydriert; er nahm einen kräftigen Schluck Wasser und fummelte an seiner Kamera herum, aber er spürte, wie die Tarantel der Angst langsam seinen Rücken hinunterkroch. Er ärgerte sich über sich selbst. Die Hexe versuchte gezielt, ihm Furcht einzujagen. Genau, wie Tyrone gesagt hatte. Sie versuchte ihn zu verunsichern, und bisher gelang ihr das hervorragend.
Sie begannen fast sofort mit dem Interview. Ty stellte der Spinnenhexe auf Khmer verschiedene Fragen, und die Hexe antwortete gelangweilt, mit einem gelegentlichen Anflug von Eitelkeit. Unterdessen verspeiste sie drei Spinnen. Jake konnte nicht anders, als sie fasziniert dabei zu beobachten, wie sie sich die Tierchen genüsslich einverleibte. Ihre Armreifen klimperten. An ihrem Kinn klebten Tarantelstückchen. Ein Spinnenbein steckte zwischen ihren Zähnen – sie zog es heraus, um es sich, die Finger leckend, wieder in den Mund zu stecken. Dann hustete sie das nächste Spinnenbein in eine Serviette.
Jack starrte auf die Serviette, die sich auf dem Tisch auffaltete. Das halbzerkaute schwarze Spinnenbein lag glänzend, schwach rosafarben und sämig von Spinnenblut in dem Nest aus Papier.
Der Würgereiz war sehr stark. War all das ihre Masche, ein Teil ihrer Nummer? Ihr Modus Operandi?
Fotografieren. Jake musste Fotos machen. Das war die beste Möglichkeit, inneren Abstand zu dem widerlichen Schauspiel zu gewinnen. Doch als er seine Kamera zückte, merkte er zu seinem Ärger, dass das Objektiv schweißverschmiert war. Die Bilder waren verschwommen. Die Hexe erschien als lüsterner, mit Schwärze gefüllter Mund. Eine gähnende, schmuckbehangene Insektenfresserin. Jack fluchte stumm in sich hinein. Achte immer darauf, dass deine Kamera sauber ist. Die Grundregel der Fotografie; wie ein Soldat, der sein Gewehr zu ölen lernt.
Jake fröstelte in der Kälte des klimatisierten Zimmers. Er kramte ein Reinigungstuch aus seiner Tasche und machte sich daran, das Objektiv zu putzen. Er war so davon in Anspruch genommen, dass er zuerst gar nicht merkte, wie still es im Raum geworden war.
»Was ist?« Er blickte erschrocken auf.
Die Hexe hatte etwas gesagt, was Tyrone offensichtlich hatte stutzen lassen. Jake merkte, dass die Hexe inzwischen ihn ansah.
»Was ist?«, fragte er noch einmal. »Was ist passiert, Ty? Was hat sie gesagt? Irgendwas über mich?«
Ty zuckte verlegen mit den Achseln. Stumm.
»Jetzt sag schon.«
»Sie zieht bloß ihre übliche Show ab. Sie versucht dir Angst zu machen.«
»Ty!«
»Sie sagt, in deinem Leben gibt es sehr viel Traurigkeit …«
»Und?«
Die Hexe begann, rasch auf Khmer zu sprechen. Tyrone übersetzte:
»Sie sieht ein Geisterkind. Ähm … der Geist eines Geists, ein kleines Mädchen? Ein Mädchen, das weggerissen wurde.«
Es war total absurd – und in höchstem Maß peinlich. Jake winkte den Schwachsinn beiseite. Es war eiskalt im Zimmer; warum mussten sie die blöde Klimaanlage so bescheuert hoch stellen?
Aber die Frau ließ nicht locker. Sie deutete auf Jake. Tyrone übersetzte weiter:
»Sie sieht einen schwebenden Kopf, langes Haar, ein weißes Gesicht, einen Kopf mit … das verstehe ich nicht, dieses Wort kenne ich nicht. Jedenfalls hat es irgendwas mit dem Geist deiner Mutter zu tun, ihrem Gespenst oder so was Ähnlichem.«
»Meine Mutter? Was will sie über meine Mutter wissen?«
»Keine Ahnung, Mann. Ich glaube, es ist eine weitverbreitete Vorstellung, die die Khmer von Geistern
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