Bibel der Toten
Nicht mehr. Vielleicht war ich zu lange weg. Nichts ist mehr sicher, es ist das reinste Chaos – gerade so, als ob die Vergangenheit wiederkehren würde. Und dann mein Großvater, wie konnte er? Mich einfach zu verkuppeln, wie eine Konkubine für Sihanouk, mich zu verkaufen wie ein Stück Fleisch, wie die Schweineköpfe auf dem Markt. Jake. Und die Leute von der Uno, sie sind genauso, sie verstehen rein gar nichts, sie sind keine Khmer. Ich fühle mich völlig allein, von allen verlassen. Deshalb habe ich nur noch dich. Nur dich. Nicht einmal mehr meinen Großvater. Nur dich.«
Sie sah ihn unverwandt an. »Du bist anders, Jake. Das bist du doch, oder? Du bist jemand, der von draußen kommt, ein Außenstehender, und trotzdem, trotzdem bist du mein Freund geworden. Du bist integer. Ich vertraue dir, Jake. Aber wenn es für dich umgekehrt nicht genauso ist … wenn du es nicht auch so empfindest, dann … das könnte ich natürlich verstehen, doch, das könnte ich, aber wenn es so ist, dann dürfen wir uns nicht mehr sehen. Nie mehr. Denn …«
Sie stand ganz nah vor ihm und schaute ihm in die Augen, so nah, dass er ihr Parfüm riechen konnte. Ihr Gesicht war vor Aufregung leicht gerötet; sie blickte zu ihm auf, weiblich und trotzig, stolz und verunsichert, alles gleichzeitig.
Er war hin und her gerissen. Einerseits konnte er sie verstehen und teilte ihre Gefühle. Aber zugleich war er immer noch nicht ganz überzeugt, dass sie ihm alles erzählt hatte. Gab es da noch etwas?
Aber er wollte sie auch: diese zierliche Zartheit. Mehr, als er das Land verlassen wollte, und mehr, als er sich in Sicherheit bringen wollte, wollte er sie einfach nur küssen. Jetzt. In diesem Moment. Und dann tat er es einfach. Jake musste an ihre Flucht aus Luang denken, wie sie auf dem Boden der Piroge, die nackten Beine von getrocknetem grauem Schlick überzogen, auf einem gefalteten Sarong geschlafen hatte und ringsum die roten Blütenblätter der Flammenbäume auf den schlammigen Mekong herabgeschwebt waren.
Er wusste, dass er gerade verführt wurde; selbst wenn sie es nicht beabsichtigte, verführte sie ihn. Aber das war jetzt nicht der richtige Moment dafür. Sein Leben stand auf dem Spiel, er musste kühlen Kopf bewahren.
»Wer wollte mich umbringen?«
Sie runzelte nachdenklich die Stirn.
»Dahinter können eigentlich nur ehemalige Rote Khmer stecken. Wer sonst? Die Regierung. Sie wollen sich an meiner Familie rächen, an uns allen. Kumnun. Ja.«
»Nicht die Laoten?«
»Nein, das glaube ich nicht. Für sie wäre das mit viel zu großen Risiken verbunden. Nein, dahinter können eigentlich nur Leute von hier stecken. Mächtige Leute. Sehr, sehr mächtige Leute.«
Sie blickte sich um; in einer Ecke saß eine Buddhastatue und grinste ihr ewiges nibbana -Grinsen. »Diese … hemmungslose Gewalt gibt es einfach überall in Phnom Penh. Gangster vielleicht. Aber da das Ganze auch gegen dich gerichtet ist, gegen einen Ausländer, kann es nur politisch motiviert sein, und das wiederum heißt, dass wir in Laos irgendetwas entdeckt haben müssen, irgendetwas enorm Wichtiges. Das ist dir doch klar, oder?«
Wieder streckte sie ihre feingliedrige Hand nach ihm aus und verschränkte ihre Finger mit seinen. Ihre Stimme war sanft, klar und traurig.
»Ich kann verstehen, dass du Angst hast. Du hättest bei dem Anschlag ohne weiteres getötet werden können. Wenn du nach England zurückfliegen möchtest, kann dir das niemand zum Vorwurf machen – ich würde dir keinen Vorwurf machen – nein, meinetwegen brauchst du bestimmt nicht hierzubleiben; was ich hier zu erreichen versuche, ist ganz allein meine Sache. Das soll nicht dein Problem sein.«
Wieder schüttelte er ihre Hand ab; diesmal aber mit einem gewissen Widerstreben. Stattdessen packte er sie an beiden Handgelenken und schaute ihr in die Augen. Ihre Worte hatten ihn in seiner Männlichkeit gekränkt. Er und Angst?
»Chem, ich laufe nicht weg … es ist nur … ich bin nach Kambodscha gekommen, um etwas zu erreichen. Wenn ich mich von diesen Leuten verscheuchen lasse, habe ich nichts erreicht, nichts bewiesen. Wo sollte ich außerdem hin? Zurück nach England? Nur, was soll ich dort? Irgendwo anders hin? In ein anderes vom Krieg gespaltenes Land? Wo soll da der Unterschied sein? Mein Platz ist hier, hier gehöre ich hin … ich will bleiben … ich habe keine Angst. Aber …«
Er ließ ihre Handgelenke los. Er war immer noch durcheinander. Was sollte er sagen?
In seiner Frustration
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