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Bibel der Toten

Bibel der Toten

Titel: Bibel der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Knox
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zog er sich tiefer in den Schatten zurück und spähte durch die offene Tür eines Nebentempels. An seiner Rückwand reihten sich Statuen von Gottheiten, Göttern, Dämonen, was auch immer. Alles war so fremdartig, so exotisch und unverständlich.
    Er schaute.
    Jake verstand den Buddhismus oder den Hinduismus nicht wirklich – oder wie sie sich gegenseitig ergänzten oder voneinander unterschieden. Er hatte es versucht, hatte sich wirklich Mühe gegeben, aber immer schien sich irgendetwas ganz Wesentliches seinem Verständnis zu entziehen. Selbst hier, selbst jetzt wurde ihm wieder schmerzlich bewusst, dass er nichts begriff. Ursprünglich hatte er gedacht, es handle sich hier um einen typisch indochinesischen buddhistischen Tempel, aber jetzt schien er ihm auf einmal sehr starke indische Einflüsse aufzuweisen. Die Statuen waren grellbunt bemalt, wie Gartenzwerge, mit knallroten Lippen, gelben Zähnen, türkisen Augen; eine blaue Frau mit gelben Schwertern in ihren unzähligen Armen und mit einer Kette aus abgetrennten Köpfen um den Hals tanzte ihren immerwährenden Todestanz. Die Göttin Kali?
    Auf den Stufen des Tempels lagen kleine Opfergaben, die in ihrer Alltäglichkeit etwas Rührendes hatten: eine reife Mandarine, zwei durchgebrochene Zigaretten, ein Plastikteller mit einem von schwarzen Fliegen wimmelnden Klumpen Klebreis.
    Chemda blieb hinter Jake stehen.
    »Wir können uns in dieser Wohnung verstecken. Niemand wird mitbekommen, dass wir dort sind. Mein Großvater kommt nie dorthin.« Jake schwieg. Chemda ließ nicht locker. »Bitte, Jake. Mehr kann ich nicht mehr sagen. Ich muss jetzt los. Wenn du nicht mitkommen willst, kann ich das verstehen, aber … mehr Zeit habe ich nicht mehr. Wiedersehen …«
    Kali fuchtelte in ihrem nie endenden blauen Tanz mit ihren vielen Schwertern. Jake fasste einen Entschluss.
    »Wir haben Laos überstanden – dann werden wir auch das hier überstehen. Komm.«
    Sie sah ihn an, und er glaubte, ein flüchtiges Aufblitzen scheuer Freude in ihren Augen zu bemerken – doch es wich sofort wieder ihrer majestätischen Entschlossenheit.
    Sie eilten zum Eingang des Tempels und stiegen über seine hölzerne Schwelle. Im Freien war es heiß, drückend heiß. Sonntag in Phnom Penh, nichts als röhrende Tuk-Tuks und bimmelnde Fahrradrikschas. Jake fühlte sich beängstigend exponiert. Er stand, von allen Seiten deutlich zu sehen, in der prallen Sonne; man könnte ihn mühelos erschießen, entführen, weiß Gott, was sonst noch alles.
    Ein Tuk-Tuk.
    »Komm.«
    Sie stiegen ein. Chemda sagte ein paar hastige Worte auf Khmer. Der Fahrer nickte – fast salutierte er. Sie kamen rasch voran. Chemdas Anweisungen folgend, nahm der Fahrer Seitenstraßen und dunkle Schleichwege; begleitet von wild bellenden, wütend nach ihnen schnappenden Hunden, brausten sie durch lange, verwahrloste Gassen, ratterten röhrend an einer Reihe ausgebrannter, verfallener Wohnblöcke vorbei, die auch nach vierzig Jahren noch leerstanden, immer noch leer. Als sie kurz auf einen Boulevard mit großkotzigen Hyundai-Showrooms und riesigen Werbungen für Delon-Zigaretten bogen, schrumpfte Jake immer weiter auf seinem Sitz zusammen, um nur ja nicht aufzufallen. Schließlich erreichten sie die stille Beschaulichkeit schattig grüner Vororte.
    Ein altes Holzhaus, gepflegte Gärten, eine von Frangipanibäumen gesäumte Straße. Jake kam das Viertel vage bekannt vor.
    »Da vorn.«
    Es war ein moderner Wohnblock. Weiß, sauber und ruhig, am Ende einer Seitenstraße.
    Chemda bezahlte den Fahrer. Sie sah Jake fragend an, als er mit seinem kleinen Rucksack über der Schulter aus dem Tuk-Tuk stieg.
    »Mehr hast du nicht dabei?«
    »Das ist alles, was in meinem Geheimversteck im Treppenhaus war: mein zweiter Pass und ein paar Kreditkarten. Alles andere ist weg. Alles.«
    »Das macht nichts, ich habe Geld. Wir können morgen ein paar Sachen zum Anziehen für dich kaufen und was wir sonst noch brauchen. Aber jetzt schnell, lass uns reingehen.«
    Die Wohnung war im ersten Stock. Steril, aber komfortabel, antiseptisch, vollklimatisiert, spärlich eingerichtet, drei Zimmer. Eine typische Zweitwohnung. Eine günstige Investition, die darauf wartete, dass ein im Ausland lebender Kambodschaner zumindest in den heimischen Immobilienmarkt etwas Vertrauen zeigte.
    Jake setzte sich auf das teure Ledersofa und blickte auf ein Foto an der Wand, das mit seinem graphischen Spiel von Licht und Schatten beinahe abstrakt wirkte. Ein weiterer

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