Bibel der Toten
Schädel erst vor kurzem hierher gebracht – und der Sammlung hinzugefügt worden sein!«
Alex’ Stirnrunzeln wich einem strahlenden Lächeln.
»Aber klar doch! Kluges Mädchen! Demnach könnten die gesuchten Knochen …«
»In einer dieser Schachteln sein! Eigentlich müssten sie sogar in diesem Stapel sein! Damit sie demnächst an ihren Platz im Regal …«
Julia machte sich sofort über den Stapel her.
Die Schachteln waren in Gruppen von zehn bis fünfzehn Stück geordnet; sie brauchten zwanzig Minuten, um ein Viertel durchzusehen. Daraus wurden vierzig Minuten. Dann fünfzig. Es sah so aus, als hätten sie kein Glück, bis Alex sehr langsam und mit einem ominösen Unterton sagte:
»Julia, schau mal. Da!« Er deutete neben die Tür. »Die dritte Schachtel von unten.«
Sie suchte den Stapel ab, bis ihr Blick schließlich auf einer Schachtel mit einem großen, deutlich erkennbaren Etikett haften blieb – schwungvoll von Hand beschriftet und selbst aus einiger Entfernung gut lesbar. Prunières de Marvejols, 1872 .
Es gab sogar drei Schachteln, alle auf dieselbe Weise etikettiert und übereinandergestapelt. Julia konnte ihren Forscherdrang nur mit Mühe bändigen, als sie sich durch das Chaos aus Schachteln kämpfte. Rasch war sie zu den fraglichen drei vorgedrungen und trug sie forsch zu einem Tisch. Alex musste grinsen über ihren Eifer. Ohne langes Zögern, geradezu heißhungrig riss sie die erste Schachtel auf, als befände sich darin ein Tandoori, das sie sich vom Inder um die Ecke mit nach Hause genommen hatte.
Sie schauten hinein.
Die Schachtel enthielt mehrere menschliche Schädel, offensichtlich aus dem Neolithikum. Aber es handelte sich nicht um die Schädel, die Julia in der Höhle gefunden hatte. Wie das?
Allerdings waren auch diese Schädel trepaniert.
Die anderen beiden Schachteln enthielten ebenfalls solche Schädel sowie einen Baumwollbeutel mit Feuerstein-Pfeilspitzen und einen dünnen Ordner, dessen Seiten in einer manierierten altertümlichen Handschrift beschrieben waren, die zwar sehr klein, aber dennoch gut lesbar war. Die Aufzeichnungen eines Laienforschers aus dem späten 19. Jahrhundert. Sie umfassten nur einige wenige Seiten. Zehn Minuten später setzte sich Julia zurück.
Ihr Freund-mit-Vorteilen blickte von den Schädeln, die er gerade untersuchte, auf und sah sie lächelnd an. »Komm schon, mach’s nicht so spannend. Was hat er geschrieben? Dein Prunières?«
»Er hat genau das gefunden, was ich auf der Cham gefunden habe. Skelette mit Verletzungen, sehr viele; und Schädel mit Trepanationen. Kleine aus dem Cranium herausgeschnittene rondelles . Er hat in den Höhlen im Westen von Lozère gegraben, am Tarn.«
»Aha. Und?«
»Er hat sich für eine Vorlesung Notizen gemacht und darin seine Erkenntnisse zusammengefasst. Hier, ich lese es dir vor.« Sie griff nach den Notizen und übersetzte holprig: »›In den Höhlen von Baumes-Chaudes, die in demjenigen Teil des Tarn-Tals liegen, der zum Departement Lozère gehört, habe ich zahlreiche Knochen gefunden, die Verletzungen aufwiesen, wie sie üblicherweise von Steinwaffen hervorgerufen werden. In zirka fünfzehn dieser Knochen, bei denen es sich um Hüftknochen, Schienbeine und Wirbelknochen handelt, stecken immer noch Feuersteinspitzen, die mit solcher Kraft geschleudert oder abgeschossen wurden, dass sie tief in das Knochengewebe eindringen konnten. Darüber hinaus habe ich dem Kongress in Clermont zahlreiche Knochen vorgelegt, die Spuren‹ …« Julia stockte. »Bei diesem Wort bin ich mir nicht sicher … nein, warte. Ich glaube, das heißt Vernarbungen . ›… die Spuren von Vernarbungen aufwiesen. Sie stammen aus der Höhle des Homme Mort und aus der Höhle unter den Aumède-Dolmen‹ …« Sie wendete die Seite und sah Alex an. »So geht es dann noch mehrere Seiten weiter. Er hat, über ganz Lozère verteilt, Tausende versehrter Knochen gefunden und Dutzende Trepanationen.«
Alex stieß einen anerkennenden Pfiff aus.
»Aha! Und sein Fazit? Sieht er irgendeinen Zusammenhang?«
»Ja«, antwortete Julia. »Er drückt sich zwar reichlich vage aus und gibt auch zu, dass das Ganze sehr theoretischen Charakter hat. Aber dennoch fragt er sich …« Sie zitierte wieder: »›ob wir in der oberen Languedoc viele tausend Jahre vor Christi Geburt von der Existenz einer relativ hoch entwickelten Gesellschaft ausgehen können, die zu extremer Gewalttätigkeit neigte. Will man das einmal als gegeben annehmen, könnte man die
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