Biest: Thriller (German Edition)
Gefühl. Ein Bauchgefühl, nicht mehr. Aber auch nicht weniger. Einer ihrer Ausbilder hatte ihr dringend geraten, darauf zu hören. Solveigh reagierte mechanisch. Suchte spiegelnde Oberflächen, bemühte sich, Augenpaare auszumachen, die für einen Moment zu lange an ihr hängen blieben. Dann hielt sie Ausschau nach den Toiletten, die es im Gepäckbereich eines jeden Flughafens gab, für Langstreckenreisende und solche mit überstandener Flugangst. Sie entdeckte keine Gesichter, aber dafür das weltweit universelle Zeichen für Waschräume und entschied sich, einen Zwischenstopp einzulegen. An der Tür verkantete sie ihren Koffer am Türrahmen und drehte sich, um ihn wieder aufzurichten. Sie entdeckte niemanden. Keinen überhaupt nicht unauffälligen Zeitungsleser wie in einem schlechten Agentenfilm, keine Frau mit Sonnenbrille, die an ihrer Handtasche nestelte. Sie zog den Koffer vor das gelbe Waschbecken und seifte sich die Hände ein. Das eiskalte Wasser ließ sie noch ein wenig über ihre Pulsadern laufen, denn sie wusste, dass es nach einem längeren Flug mit sauerstoffarmer Luft die Sinne schärfte. Dann trocknete sie die Hände und rief sich noch einmal die Situation vor der Tür ins Gedächtnis: Wer hatte wo gestanden? Wer hatte in welche Richtung geschaut? Der Mann mit den braunen Schuhen zum schwarzen Anzug, die Mutter mit ihren zwei Kindern, die Frau mit den Korksandalen? Dann schnappte sie ihren Koffer und öffnete die Tür. Der Mann war weg, die Frau ebenso. Die Kinder zogen an einem Gepäckwagen. Es stand niemand mehr dort, wo er vorher gestanden hatte. Ihr Bauchgefühl musste sie getäuscht haben. Sie wurde offenbar doch nicht verfolgt. Oder von jemandem, der sehr, sehr gut darin war. Mit dem Gedanken an die nicht vorhandene Waffe in ihrem Schulterholster machte sie sich auf den Weg Richtung Taxistand.
Solveigh erreichte den Konferenzraum der ECSB fünf Minuten zu spät. Nach der Beseitigung der unmittelbaren Bedrohung für die Kernkraftwerke war er in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzt worden: Der weiße elliptische Tisch stand wieder in der Mitte, drum herum Platz für zwölf Personen, zentrale Monitorwand am Kopfende. Neben Sir William, der mit seinem karierten Jackett wieder einmal ausgesprochen britisch aussah, waren die üblichen Verdächtigen versammelt: Eddy und Dominique sowie eine Analystin aus dem Russlandteam, eine rundliche, rothaarige Mittvierzigerin namens Irina, die aus Tschechien stammte und in Moskau studiert hatte. Solveigh kannte sie als äußerst kompetente Kollegin, die sich mit der russischen Politik und dem Land bestens auskannte. Irina stand vor dem Monitor und präsentierte ihre Analyse über das Biest. Solveigh war gespannt, was die Kollegen während ihres Rückflugs herausgefunden hatten. Dawydow hatte ihnen nicht viel mehr als einen Geburtsnamen und einige frühe Unternehmensbeteiligungen liefern können. Immerhin. Sie nickte in die Runde und setzte sich. Bei der ECSB gehörte es sich nicht, eine laufende Sitzung zu unterbrechen, auch wenn ihr niemand vorwerfen würde, dass sie am Flughafen auf ihren Koffer warten musste.
»… geboren wurde er als Stanislav Nikolayewitsch Mokeyev am 7.8.1968 in Woronesch. Seine Eltern waren russische Diplomaten in Washington, wo er die russische Schule besuchte. Er kehrte wohl als Anfang zwanzigjähriger nach Russland zurück, nachdem sein Vater ins Außenministerium versetzt worden war. Für die nächsten zwei Jahre verliert sich seine Spur. 1990 schrieb er sich an der Wharton School der University of Pennsylvania im Bereich Wirtschaft ein. Vier Jahre später schloss er sein Studium in Internationalen Beziehungen und Wirtschaft als Drittbester seines Jahrgangs ab. Aus dieser Zeit stammt das erste Foto, das wir von ihm auftreiben konnten.«
Auf dem Bildschirm erschien das Porträt eines jungen Mannes, aufgenommen vor einer blau-weißen Fototapete, augenscheinlich im Studio. Er hatte blonde Haare, links gescheitelt, Oberlippenbart. Nicht sehr aussagekräftig, vor allem heute nicht mehr.
»Nach seinem Abschluss ging er zurück nach Russland und brach jeden Kontakt zu seinen Kommilitonen ab. Das nächste Foto zeigt ihn im Beraterstab von Boris Jelzin bei einem Wirtschaftsgipfel in der letzten Reihe.«
Auf dem Bild war der Kopf einer Person rot eingekreist. Er blickte zur Seite, und trotz des Anzugs und der neuen Frisur war Mokeyev noch deutlich zu erkennen.
»Wir vermuten, dass er in dieser Zeit enge Kontakte zu Jelzin
Weitere Kostenlose Bücher