Biest: Thriller (German Edition)
ruhig sitzen und stand dann langsam auf. Sie sah die fragenden Blicke der Autofahrer und Dominique, dem es irgendwie gelungen war, sich selbst in seinen Rollstuhl zu hieven. Aus der Ferne näherte sich eine große Anzahl unterschiedlicher Sirenen. Sie kamen zu spät. Dominique rollte bis direkt neben den Leichnam seines Peinigers und sah sie fragend an. Solveigh nickte. Das Nicken war jetzt frei von Zweifel und Bedauern. Ein Mann, der viele Menschen auf dem Gewissen hatte, war seinen Opfern gefolgt. Dann steckte sie ihre Jericho in den Bund ihres Rocks und ging auf der leeren Straße Richtung Osten, hinein in die Nacht. Als sie die ramponierte Limousine hinter sich gelassen hatte, steckte sie sich eine von Thanatos’ Zigaretten an, obwohl sie ansonsten nur bei Eddy an Weihnachten rauchte. Sie lief minutenlang durch die kalte Luft, sog den Rauch in die Lungen und betrachtete die Sterne. Ein Hip-Hop-Song über New York kam ihr in den Sinn, warum, wusste sie auch nicht so genau. »These Streets will make you feel brand new, the lights will inspire you«, summte sie und wunderte sich, wie sehr das Lied gleichzeitig traurig und hoffnungsfroh klang. Nach der Hälfte warf sie die Kippe in eine Pfütze am Straßenrand und holte ihr Handy hervor. Zeit weiterzumachen. Und sie hatte die Nachricht nicht vergessen. Sie war von Marcel: Komme nach Prag. Wichtig! Morgen 15.00 Uhr, Vysehradsky-Friedhof, Grab von Josef Kaizl.
KAPITEL 10
Berlin, Deutschland
15. September 2012, 12.41 Uhr (einen Tag später)
Bemüht, möglichst trocken aus dem Taxi zu kommen, spannte Thomas Eisler den Schirm, noch während er auf dem Rücksitz saß, auf. Er setzte den rechten Schuh auf den Bürgersteig und hievte sich aus dem Wagen, mit einer schnellen Handbewegung knallte er die Tür zu und sah sich um: Der Mehringdamm in Kreuzberg gehörte nicht zu seinen bevorzugten Gegenden, und er wunderte sich, dass es Doreen hierher verschlagen hatte, ausgerechnet in den Westen. Aber manchmal hielt das Leben selbst für die Talentiertesten unvorhersehbare Stolperfallen parat. Manche nannten es Pech, andere Schicksal, die meisten fanden sich damit ab. Thomas Eisler war gespannt, wie es seiner ehemaligen Vorzeigeschülerin ergangen war. Er hatte sie jetzt seit über zehn Jahren nicht mehr gesehen, und es war über zwanzig Jahre her, dass sie für ihn gearbeitet hatte. Damals war sie eine achtzehnjährige Schülerin vom Land gewesen, die über die bestens organisierte »Zentralstelle für besondere Aufgaben« der FDJ ihren Weg zu ihm gefunden hatte. Ob sie immer noch so blendend aussah wie früher? Ob sie eine geeignete Kandidatin für ihn war? Oder eine ebenso große Enttäuschung wie Karin und Astrid, die er jeweils an den letzten beiden Tagen aufgesucht hatte? Eine Hausfrau und Mutter von drei Kindern und eine alkoholkranke Hartz-IV-Empfängerin, die sich zwar ganz passabel hielt, an der aber die Selbstzweifel bis zur Unkenntlichkeit genagt hatten, passten nicht in seinen Plan. Hoffen wir auf Doreen, dachte Eisler und warf einen Blick auf den zerknitterten Zettel aus seiner Manteltasche: Mehringdamm 128. Casino. Inhaber Robert Tucher, genannt Robbie. Vielleicht doch reine Zeitverschwendung, überlegte Thomas Eisler, als er die letzten Meter zu Fuß zurücklegte. Der Regen pladderte auf seinen windschiefen Schirm aus dem Drogeriemarkt. Egal, wo wir schon mal da sind, dachte er und betrachtete die bunte Leuchtreklame aus grünen, roten und blauen Paneelen, die den gesamten Eingangsbereich überspannten. Tatsächlich stand in riesigen Lettern ›Casino‹ darüber, obwohl es sich um nichts weiter handeln konnte als um eine billige Spielhölle. Als er den dicken Vorhang zur Seite schob, kroch ihm eine Wolke von kaltem Rauch, altem Fett und schalem Bier entgegen, der rote Teppichboden war abgewetzt und stumpf. Ein paar Billardtische standen in der Mitte des Raumes, an den Wänden blinkten bunte Automaten, die durcheinander um die Aufmerksamkeit der Gäste trällerten. Von denen gab es, soweit er das überblicken konnte, allerdings bisher keine Spur. Er hatte sich die frühe Stunde nicht umsonst ausgesucht, das Etablissement hatte erst seit gut vierzig Minuten geöffnet. An der Rückseite des Raums war eine lange Theke zu sehen, jedoch ohne Personal dahinter. Verlassen wie eine baufällige Achterbahn im Regen, dachte Thomas Eisler und machte sich trotzdem auf den Weg. Auf halber Strecke begutachtete er einen Billardqueue, um etwas Zeit zu gewinnen. Neben der Bar
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