Biest: Thriller (German Edition)
ein grobkörniges Bild, das mit einem leistungsstarken Teleobjektiv in einer Hotellobby aufgenommen worden sein musste. Es zeigte einen etwa siebzigjährigen Mann, den Solveigh nicht auf Anhieb zuordnen konnte. Den Namen, der neben dem Foto stand, kannte sie dafür umso besser: Thomas Eisler, seines Zeichens einer der ranghöchsten Stasi-Offiziere bis zum Zusammenbruch der DDR.
»Heilige Scheiße«, entfuhr es Solveigh. »Jetzt verstehe ich, warum Sie den ganzen Aufwand hier inszeniert haben.« Wenn Thomas Eisler im Spiel war, konnte niemand den deutschen Behörden trauen. Er hatte sich 1989 kurz vor dem Zusammenbruch der DDR nach Moskau abgesetzt und war flüchtig. Angeblich hatte er ein Angebot der CIA über Asyl gegen detaillierte Informationen über die Organisation der Informellen Mitarbeiter der Stasi abgelehnt und war in Österreich untergetaucht. Aber auch die Gerüchte, er lebe immer noch in dem Deutschland, das ihn angeblich so fieberhaft suchte, wollten nicht verstummen. Wenn dieser Thomas Eisler seine Finger da drin stecken hatte, musste die ECSB aktiv werden. Solveigh nickte Yael anerkennend zu und bedankte sich für die wichtigen Informationen.
Die israelische Agentin zog die Augenbrauen hoch: »Und Sie interessiert gar nicht, wie es uns gelungen ist, Ihnen diese Nachricht zukommen zu lassen?«
Solveigh lächelte trocken: »Nein. Sie haben mit Marcel geschlafen, alle anderen Möglichkeiten können wir, glaube ich, ausschließen, oder nicht?«
Das Handy am Ohr, schloss Solveigh zwei Stunden später die Tür zu ihrem Hotelzimmer auf, in der rechten Hand balancierte sie einen Kaffeebecher. Ihr Chef William Thater war ebenso in der Leitung wie ihr Kollege Eddy und zwei externe Experten der ECSB, ein Spezialist für Computerviren sowie ein Professor aus Rom für Nahostpolitik, der gerade seine Einschätzung ihrer Begegnung mit der Mossad-Agentin abschloss:
»Wenn Sie überhaupt jemandem trauen können aus Tel Aviv, wozu ich Ihnen nicht unumwunden raten würde, dann vertrauen Sie Gideon Feinblat.«
»Eine sehr aufschlussreiche Formulierung«, grummelte Sir William ins Telefon. »Aber ich komme nicht umhin, Ihnen zuzustimmen, und wie sagt man so schön: Einem geschenkten Gaul und so weiter? Wenn er uns seine Hilfe anbietet und uns zudem Yael Yoffe zur Verfügung stellt, sollten wir das zunächst nicht ablehnen – auch wenn wir wachsam bleiben müssen. Sie haben ihre eigenen Interessen – das dürfen wir nicht vergessen. Aber aufgrund der beunruhigenden Analyse zum Stuxnet-Virus und dessen möglicher Auswirkung auf unsere Handels- und Infrastruktursysteme werde ich der EU-Kommission empfehlen, uns weiter ermitteln zu lassen. Ihr alle wisst, was das heißt …«
Solveigh nahm einen Schluck Kaffee aus dem Becher, der ihr fast die Lippen verbrannte. Zum fünfhundertsten Mal fragte sie sich, wann endlich jemand einen Deckel erfinden würde, der das verhinderte. Als sie den Becher absetzte, roch sie feine Aromen von gemahlenen Kaffeebohnen und noch etwas anderes. Ihr Geruchssinn hatte sie bisher selten getäuscht.
»… sammeln uns hier in Amsterdam«, hörte sie als Nächstes von Will. Sie kannte diesen Geruch sehr gut. Es roch nach altem Leder, Flugbenzin und einer grünen Wiese. Nur ein Mensch, den sie kannte, trug dieses Parfum. Ihr Magen hatte in diesem Moment keine Ahnung, ob er sich freuen oder verkrampfen sollte, stattdessen spürte sie einen kleinen Stich im Herzen. Solveigh ging den schmalen Flur ihres Hotelzimmers entlang vorbei an ihrem aufgeklappten Koffer und dem Zimmersafe, noch immer hielt sie den Kaffeebecher in der Hand. »Wir sehen uns in zwei Tagen«, schloss Thater und bedankte sich bei den Teilnehmern der Telefonkonferenz. Solveigh legte auf und betrat das Schlafzimmer. Sie hatte sich nicht getäuscht. Auf dem Stuhl vor dem kleinen Schreibtisch saß ein unerwarteter Besucher und blickte zu ihr herauf. Er hielt eine Kamera in den Händen und fummelte gedankenverloren an ein paar Knöpfen. Solveigh sagte nichts.
»Hallo, Solveigh«, begrüßte Marcel sie mit dem schiefen Grinsen, das sie sehr mochte, das aber in dieser Situation vollkommen unangebracht war. Sie nickte. Sie war verletzt, gekränkt. Natürlich war ihr klar, dass sie keinen Anspruch auf ihn hatte, schon gar nicht bei der wenigen Zeit, die sie ihm widmen konnte. Selbst verwirkt. Natürlich machten ihm andere Frauen schöne Augen, und natürlich war sie nie da. Immer unterwegs, keine Zeit. Entschuldige, Marcel, da bin
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