Biest: Thriller (German Edition)
aussah, aber der Zahn der Zeit war auch an ihrem Körper nicht spurlos vorübergegangen, und einen Mittzwanziger ausgerechnet von ihr verführen zu lassen würde für Thomas ein Risiko bedeuten. Risiken gehörten nicht zu Thomas Eislers Vorlieben, und ihr war klar, dass er, ohne mit der Wimper zu zucken, eine andere Frau ausgesucht hätte. Also ist vielleicht doch ein weiterer Lockvogel im Spiel, dachte Doreen während sie in einen eleganten schwarzen Rock schlüpfte und dazu eine passende bordeauxfarbene Bluse anprobierte. Es würde ihr nicht gefallen, wenn er eine andere auswählen würde. Nein, sie wollte den Auftrag bekommen. Sie musste ihn einfach kriegen. Nach einer Viertelstunde in der Kabine entschied Doreen Kaiser, einfach alles zu kaufen, es war bei Weitem noch nicht genug, um als kompletter Kleiderschrank einer Frau in einer dreimonatigen Beziehung durchzugehen. Als Nächstes würde sie einen Secondhandladen ansteuern müssen, um ein paar abgetragenere Stücke zu erwischen. Und Schuhe, sie brauchte dringend Schuhe. Alle Frauen brauchten Schuhe, oder nicht? Sie beschloss, sich das für den frühen Abend aufzusparen, als Highlight sozusagen.
Als sie um zwanzig vor acht mit einem Taxi an der Bushaltestelle hielt, die gegenüber dem Media Markt lag, besaß sie immer noch einen Großteil des Geldes, das ihr Thomas gegeben hatte, zumal sie oft die Kreditkarte verwendet hatte. Dieses Mal bezahlte sie mit einem abgegriffenen Fünfzigeuroschein und hievte die acht Tüten alleine aus dem Kofferraum, nachdem der Fahrer keinerlei Anstalten machte, ihr zu helfen. Als sie die Betontreppe zu den Wohnungseingängen des Plattenbaus hinaufstieg, verschnaufte sie kurz und ließ ihren Blick über das abendliche Berlin streifen. Sie stand mittendrin in der Millionenstadt, den Alexanderplatz im Rücken und das geschäftige Mitte keine zehn Gehminuten entfernt. Und trotzdem lief im siebten Stock dieses Hauses, das vermutlich wegen der Mieter nicht abgerissen werden konnte, der Plan für einen Terrorakt – das zumindest vermutete Doreen. Sie wusste, dass Thomas Eisler ein gefährlicher Mann war, ein Mann, der leidenschaftlich hassen konnte, zudem. Der Hass auf das westliche Establishment seit dem Untergang der DDR schien nicht nachgelassen zu haben – im Gegenteil. Die meisten waren milder geworden mit den Jahren des vereinten Deutschlands, hatten sich mit mittelmäßigen Positionen abgefunden, engagierten sich für etwas Neues oder für soziale Projekte, auch wenn sie früher zum Führungskader der DDR gehört hatten. Nicht jedoch Thomas Eisler. Ein wenig grenzte es schon an Ironie, dass er ausgerechnet hier, mitten in Berlin, wohnte, mitten im Zentrum. Aber vielleicht lag gerade darin seine größte Tarnung. Hier fiel niemand auf, kein Bettler, kein Drogensüchtiger, kein Mann im Kapuzenpulli und kein Banker. Und sie hatte Thomas in den letzten drei Tagen schon in zwei solch gegensätzlichen Rollen erlebt, jeweils beim Verlassen der Wohnung. Fragen gestellt hatte sie natürlich keine. Niemand stellte Thomas Eisler irgendwelche Fragen, ohne explizit dazu aufgefordert zu werden. Als sie den Hauseingang betrat, schlug die Eingangstüre, die viel zu schnell zufiel, gegen ihre Tüten. Im siebten Stock klingelte sie an der Wohnungstür, bevor sie aufschloss, wie sie es verabredet hatten. »Thomas?«, rief sie im Flur. Er war nicht da. Sie stellte die Tüten ordentlich nebeneinander und ging in die Küche, um sich einen Tee aufzubrühen. Mit einer dampfenden Tasse in der Hand stand sie fünf Minuten später in dem Wohnzimmer, den Alexanderplatz mit dem Fernsehturm vierzig Meter unter sich. Sie sah die kleinen bunten Menschen ihren Geschäften nachgehen, wie sie in die Schächte zum Nahverkehr strömten und wieder hinaus, wie sie auf Treppen saßen und in Nussschnecken bissen oder Bier tranken. Heute war der ganze Alexanderplatz, der einstige Stolz der Republik, gepflastert mit der Werbung amerikanischer Konzerne, gegen die sie einst so stolz gekämpft hatten. Aber sie hatten verloren, der Sozialismus hatte auf drei Viertel des Wegs versagt. Sie klebten einfach Plakate drüber wie in Kiew und bauten ihre Schnellrestaurants in jeden Winkel, quetschten Cafés, die Grande Latte Americanos verkauften, neben Copy-Shops und Discounter. Die amerikanischen Plakate und die fremde Sprache verklebten ihre Republik, und sie konnte nichts dagegen tun. Bundesrepublik Deutschland, dass ich nicht lache, fluchte sie innerlich. American Republic of
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