Biest: Thriller (German Edition)
entscheidenden Vorteil: Er kannte sie. Ihre Gewohnheiten, ihre Macken und Ticks. Während der Lockenkopf und sein Kollege eine weitere halbe Stunde in seiner Unterwäsche nach Sprengstoff fahndeten, reifte in ihm ein Plan, der nicht schiefgehen konnte. Er würde sie wiederfinden, zumindest Solveigh, denn sie war in dieser Stadt ähnlich fremd wie er.
Nachdem Solveigh den halben Nachmittag in der Zentrale des Mossad im Norden der Stadt verbracht hatte, setzte ein Fahrer sie am frühen Abend vor ihrem Hotelzimmer ab. Sie waren sämtliche Überwachungsfotos durchgegangen, die die Israelis von Thomas Eisler gemacht hatten, hatten alle Hotel- und Restaurant Rechnungen überprüft und sogar zwei Tonmitschnitte angehört, die ausgesprochen illegal gewirkt hatten, ohne einen entscheidenden Durchbruch zu erzielen. Sie wussten jetzt, dass Thomas Eisler unter dem Namen Bjarne Eklund mit einem dänischen Pass ausgestattet war, er war am 4.August, aus Rom kommend, über den Ben Gurion Airport eingereist. Die Aufnahmen der Sicherheitskameras am Flughafen waren eindeutig, nur gab es bisher keinerlei Hinweise auf seine Ausreise. Eddy arbeitete bereits daran, die Bänder aus Rom zu besorgen, was aber vermutlich bis morgen Mittag dauern würde und sie wahrscheinlich auch nicht entscheidend weiterbrächte, denn Eisler war mit Sicherheit auch schon am Abflughafen alleine unterwegs. Am nächsten Tag wollten sich Solveigh und Yael gemeinsam die möglichen Verdächtigen anschauen, die innerhalb des Mossad Zugang zum Stuxnet-Quellcode hatten. Als sich Solveigh im Hotelzimmer ihre Joggingklamotten anzog, dachte sie darüber nach, wie ungewöhnlich kooperativ sich dieser Dienst zeigte, der als einer der verschlossensten und besten der Welt galt. Warum zogen sie ausgerechnet die ECSB ins Vertrauen? Vermutlich weil es sich bei der ECSB, deren schiere Existenz nicht einmal dreihundert Leuten bekannt war, um eine ähnlich klandestine Einheit handelte. Oder einfach weil Gideon Feinblat William Thater vertraute. Oder weil der Staat Israel plötzlich Angst vor seiner eigenen Technologie bekommen hatte. Die Geister, die ich rief. Wobei die Aktion gegen den Iran im politischen Europa kaum auf Ablehnung stoßen würde. Im Gegenteil. Als Geheimdienstlerin kam Solveigh nicht umhin, die Planer der Stuxnet-Aktion zu bewundern: kein Tropfen Blut vergossen, aber das iranische Atomwaffenprogramm trotzdem um mindestens vier Jahre zurückgeworfen. Hunderte von Millionen Dollar an waffenfähigem Plutonium verhindert, ohne ein Menschenleben zu opfern. Das hatte schon was, obwohl natürlich weder Feinblat noch Yael Yoffe die Beteiligung Israels offiziell zugegeben hatten. Aber klar, dachte Solveigh. Ihr wollt mir erzählen, dass ihr Zugang zum Quellcode habt, aber natürlich nicht dahintersteckt? Sie glaubte kein Wort der Beteuerungen, sah aber auch keinen Grund, ihre Gastgeber dies wissen zu lassen.
Zehn Minuten später verließ sie ihr Hotel und machte sich auf den Weg zur nahe gelegenen Strandpromenade, laut Yael die einzig sinnvolle Option, in der Innenstadt joggen zu gehen. Während sie nach Süden Richtung der alten, ursprünglich arabischen Hafenstadt Jaffa lief, versank die Sonne zu ihrer Rechten im Mittelmeer. Sie lief immer weiter, durch einen kleinen Park, den weite Schleifen geteerter Wege durchzogen, vorbei an einem Restaurant, das vereinsamt an den Strand gebaut worden war und dessen rote Lampions im Wind baumelten. In Ermangelung von Alternativen nahm sie dieselbe Strecke zurück. Es waren viele Jogger unterwegs, die in der kühlen Abendbrise ihre Runden drehten, und trotzdem hatte Solveigh das Gefühl, verfolgt zu werden. Sie kaufte an einer Tankstelle, die ebenso unvermittelt an der Strandpromenade am Straßenrand stand wie zuvor das Restaurant, eine Flasche stilles Wasser, trank in gierigen Schlucken und drehte sich um. Das Wasser war eiskalt. Und etwa achtzig Meter hinter ihr band ein groß gewachsener Mann in einem grauen Kapuzenshirt, das für das hiesige Klima viel zu warm war, seine Schuhe zu. Also doch, dachte Solveigh und freute sich einen Moment zu früh. Sie schraubte den Deckel wieder auf die Wasserflasche und rannte weiter. Was sollte sie tun? Natürlich wäre es ein Leichtes gewesen, ihn dem Mossad zu überlassen, sie würden wissen, wie sie ihr einen unliebsamen Ausländer für ein paar Tage vom Hals hielten. Andererseits war sie aber auch von Marcels Loyalität überzeugt, er machte seine Arbeit. Nicht mehr. Und nicht weniger.
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