Biest: Thriller (German Edition)
griff Marcel zu, er hatte einfach keine Zeit mehr, und auch wenn das Geschenk sein Budget deutlich überschritt, war es immer noch besser, als zu spät zu seinem Termin beim Echo zu erscheinen. Das konnte er sich noch viel weniger leisten. Er schluckte, als der Kassierer seine EC-Karte durch das Lesegerät zog, weil er sich Sorgen machte, dass das Guthaben nicht ausreichen würde. Doch nach einem kurzen Zögern spuckte das Gerät schließlich den Zettel zum Unterschreiben aus, offenbar hatte er seinen Dispokredit noch nicht gänzlich aufgebraucht.
Das Büro der »Echo«-Redaktion lag in der dunklen Rue St-Honoré, einer schmalen, einspurig befahrenen Straße, gesäumt von Cafés und geduckten Torbögen. Als Marcel keine fünf Minuten vor seinem Termin das knarzende Treppenhaus in den dritten Stock hinaufstieg, stellte er wieder einmal fest, welchen Anachronismus sich diese Zeitung, die bekannt dafür war, die größten Skandale der französischen Republik aufgedeckt zu haben, mit ihrem ganzen Auftreten leistete. In dem uralten Büro gab es weder Computer noch Handys, stattdessen quollen die Faxgeräte über, und auf jedem der eng gestellten Schreibtische der zweckentfremdeten Sechszimmerwohnung stapelten sich Bücher und Papier. Der Chefredakteur saß wie alle anderen mittendrin, ein bleistiftdürrer Mann mit schlohweißer Mähne und einer dicken Hornbrille, der ihn in diesem Moment skeptisch musterte. Marcel rückte auf dem unbequemen Holzstuhl hin und her, sein Ischias schmerzte schon jetzt. Der Bleistift sprach schnell, beinahe hektisch, aber seine Fragen waren dennoch präzise und durchaus unangenehm. Er hatte seine Verschwörungstheorie über den Papierstapeln vor sich ausgebreitet: die Fotos aus Israel, Yael und Solveigh, die sich am Kreuzfahrtterminal von Haifa ganz offensichtlich nach der Ausreise eines Mannes erkundigten, den Marcel nach endloser Recherche endlich als Thomas Eisler identifiziert hatte, einen ehemaligen Stasi-Offizier, der in der Bundesrepublik Deutschland steckbrieflich gesucht wurde. Marcel hatte daraus geschlossen, dass Israel mit der EU gemeinsame Sache machte, was diesen Herrn anging, und dass irgendetwas im Busch sein musste. Der Besuch eines Technologiezentrums des Mossad, Yaels geheimniskrämerische Kontaktaufnahme zu Solveigh, all dies deutete darauf hin, dass es etwas mit dem Stuxnet-Virus zu tun haben musste. Zumindest versuchte er es so seinem Chefredakteur zu verkaufen, denn in Wahrheit hatte er die Verbindung zu Stuxnet nur aufgrund eines mitgehörten Telefonats in einem Prager Hotelzimmer gezogen, aber das konnte er ihm ja schlecht auf die Nase binden.
»Dünn, mein Freund«, lautete die Einschätzung des Dürren hinter seinem Berg von Papier. Er nahm eine seiner Aufnahmen, die Solveigh und Yael beim Verlassen des Mossad-Hauptquartiers in Tel Aviv zeigte. »Und woher wissen Sie, dass diese Solveigh Lang für die EU-Kommission arbeitet?«
Marcel biss sich auf die Lippe. Er wollte sie nicht mit hineinziehen als offizielle Informantin, ihm war klar, dass er damit Solveighs Karriere gefährden würde. »Ich habe sie beobachtet, als sie in Amsterdam ein geheimes Büro betrat. Offiziell ist dort eine Firma namens Loude IT Services gemeldet, aber die scheinen keinen einzigen Kunden zu haben, und sie sind auch bei keinem der üblichen Branchenverbände bekannt. Ich habe mit einem Freund gesprochen, der …«
»Das reicht nicht«, unterbrach ihn der Bleistift und warf das Foto wieder auf den Stapel. »Sie, Monsieur, haben gar nichts. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was für eine Einheit das sein soll, von der Sie behaupten, dass sie grenzübergreifende Verbrechen aufklärt. Wir haben noch niemals etwas von einer solchen Einheit gehört. Und dann auch noch der Mossad, der immer aus dem Hut gezaubert wird, wenn irgendwo etwas passiert, was erst mal keiner versteht. Nein wirklich, Marcel, das klingt mir alles viel zu sehr nach Fletschers Visionen. Konzentrieren Sie sich lieber auf diese Sex-skandal-Geschichte. Glauben Sie wirklich, dass mit unserem Verteidigungsminister der vierte Spitzenpolitiker eine Frauengeschichte anfängt? Wieder in New York wie bei dem Weltbank-Chef, und wieder konnte einer einfach spontan vor lauter Geilheit nicht mehr laufen? Langsam sind doch für uns die Sex-skandale das, was für die Deutschen ihre Plagiate sind. Nein, vergessen Sie Ihre Mossad-Geschichte, Marcel. New York riecht nach CIA, der Schweinebucht, was weiß ich. Besorgen Sie da
Weitere Kostenlose Bücher