Biest: Thriller (German Edition)
wirklich dahin fahren.« Sie lief in Richtung des Eingangs, zu ihrer Linken stand eine Schlange von Maskenmännern in Reih und Glied vor einem großen gelben Zelt. Die Dekontaminierungszone. Sie gehen hinaus, während ich hineingehe. Mit einem letzten Blick auf das Dosimeter betrat sie die Zugangsschleuse des Kraftwerks. Jemand musste den infizierten Computer bergen, das konnten sie keinesfalls der Feuerwehr überlassen, die ihn im schlimmsten Fall noch bei der Dekontaminierung vernichtete und mit ihm ihre beste Chance, diesen Wahnsinn zu beenden. Und sie war keine dreihundert Kilometer entfernt gewesen, jeder andere hätte länger gebraucht. Nein, es gab keine andere Lösung. Sie musste da rein. Wir müssen da rein, korrigierte sie innerlich und spürte, wie sich eine Träne aus ihrem Augenwinkel löste und an dem dicken Gummi der Gasmaske ihre Wange herunterfloss. Zum Glück kamen die Tränen bei ihr immer nur einzeln. Bis jetzt.
»Mein Gott, lass das gut gehen.« Zum ersten Mal seit Jahren ertappte sich Solveigh beim Beten. »Nur dieses eine Mal noch.«
Eine knappe halbe Stunde später stand Solveigh vor der Pumpanlage, die laut dem Schichtleiter die erste gewesen war, die Probleme gemacht hatte. Der Mann schwitzte noch mehr als sie, und seine Nervosität hatte sich auf seine Mitarbeiter übertragen. Zwar bemühten sich alle um einen möglichst geregelten Ablauf, aber wenn man ehrlich war, herrschte das reinste Chaos. Die Einzigen, die einigermaßen ruhig blieben und einen Punkt nach dem anderen auf ihrer Checkliste abarbeiteten, waren die Männer von der Werksfeuerwehr.
»Ich brauche den Steuerungscomputer«, beharrte Solveigh. »Sofort.«
»Aber der ist ein integraler Bestandteil des Systems«, antwortete der Schichtleiter gedämpft hinter seiner Maske. »Wir können den nicht einfach ausbauen. Wir müssen zusehen, dass wir so schnell wie möglich wieder ans Netz kommen.«
Solveigh starrte ihn fassungslos an. Meinte der Mann das wirklich ernst? Oder musste man ihm zugestehen, dass sein Gehirn auf eine Art Autopilot geschaltet hatte, der vergaß zu bremsen, bevor er mit hundertvierzig Sachen eine Betonmauer traf?
»Ich will Ihnen ja nicht zu nahetreten, aber Sie haben gerade vier Arbeiter verloren, Ihr Reaktor ist undicht, und Sie reden davon, ihn wieder anzufahren? Sind Sie noch ganz bei Trost?« Solveigh versuchte, möglichst flach zu atmen, obwohl sie die Maske trug. Sie musste so schnell wie möglich weg von hier. Verstohlen warf sie einen Blick auf das Dosimeter. Noch war alles im grünen Bereich.
»Der Reaktor ist nicht undicht. Das ist vollkommen unmöglich. Und außerdem hat sich die Explosion in einem Lager ereignet, und möglicherweise ist viel weniger Radioaktivität ausgetreten, als die ersten Messwerte vermuten lassen.«
Natürlich, dachte Solveigh. Und die Instrumente der Messstationen, die nach Tschernobyl in ganz Deutschland installiert worden sind, spielen auch alle verrückt.
»Erstens«, begann Solveigh noch einmal von vorne, »bauen Sie jetzt diesen Computer aus. Ich habe mich erkundigt, es spricht nichts dagegen, die Einheit auszubauen. Sie haben doch sicher einen Ersatz, oder nicht?«
»Natürlich«, echauffierte sich der Mann, als hätte sie ihm einen Vorwurf gemacht. Vermutlich hörte er seit Stunden nichts anderes als Vorwürfe.
»Na also«, sagte Solveigh und deutete auf die graue Plastikabdeckung. Seufzend gab er einem Kollegen das Zeichen. Es dauerte keine zwei Minuten, bis Solveigh das Gerät in den Händen hielt. Laut Dosimeter hatte sie noch eine knappe Stunde. Wenn die Strahlung auf gleichem Niveau blieb.
»Und jetzt«, sagte sie, »möchte ich, dass Sie mir dieses Lagerhaus zeigen.«
»Absolut unmöglich«, schnappte der Mann nach Luft. Er war jetzt wirklich aufgebracht. Seine Körperhaltung verriet Solveigh, dass mehr dahintersteckte. Er wollte etwas vertuschen. Oder zumindest nicht an die große Glocke hängen. Sie beschloss, nicht auf ihn zu hören.
»Eddy, besorg mir den Kraftwerksplan, und markiere mir die Lagerhalle, die in die Luft geflogen ist.«
Eddy, der die gesamte Zeit über in der Leitung gewesen war für den Fall, dass sie Hilfe brauchte, reagierte prompt: Auf dem Display ihres Handys erschien ein dreidimensionaler Grundriss. Der Schichtleiter starrte sie an.
»Sie können da nicht hin!«, sagte er.
»Und warum nicht, wenn ich fragen darf?«
»Weil …«, er beendete den Satz nicht. Solveigh machte sich auf den Weg und folgte der Route, die Eddy
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