Big Bad City
Brief von der Person gestohlen worden war, die Katie ermordet hatte. Byrnes hatte recht. Falls der Brief so wichtig war, hatte der Dieb ihn bestimmt verbrannt, nachdem er ihre Wohnung verlassen hatte.
Sie konnten Rosellis Haus auch nicht nach einer Mordwaffe durchsuchen, da es sich dabei um die Hände des Täters gehandelt hatte. Sie konnten sich auch nicht an einen Richter wenden und beantragen, das Haus nach Kokain zu durchsuchen, da sie dafür einfach keinen vernünftigen Grund angeben konnten. Sie wußten, der Richter würde ihnen sagen, schön brav zu sein und nach Hause zu gehen.
Sie konnten Roselli natürlich verhaften und in der Hoffnung einbuchten, er würde schwach werden und ihnen dann haarklein erzählen, daß er selbst und nicht die kleine Katie Custer über das Geländer gestoßen hatte. Aber so was gab es nur im Kino. Falls Roselli Katie tatsächlich getötet hatte, würde er sich einfach weigern, auch nur eine Frage zu beantworten. Aber in diesem Fall gab es leider keinen Einbruch, den sie ihm anlasten konnten. Just heute morgen hatte der Richter bei der Anklageerhebung gegen Leslie Blyden eine niedrige Kaution von eintausend Dollar festgesetzt, die der Cookie Boy beglichen hatte, ohne mit der Wimper zu zucken. Ob er die Stadt nun verließ, hing einzig und allein von ihm ab. Sie wollten vermeiden, daß Roselli es ihm gleichtat.
Es war kurz nach sechs. Brown fuhr Carella nach Hause, und sie hatten sein Haus in Riverhead fast erreicht.
»Ich frage mich, ob sie noch leben würde«, sagte Brown.
»Wie meinst du das?«
»Wenn der Bruder ihr nur ein paar tausend Dollar von dem Geld geliehen hätte, das er geerbt hat.« Im Wagen wurde es still.
Und dann sprachen beide Detectives gleichzeitig. »Hat Roselli nicht gesagt…«
»Wie konnte er das wissen?« Und plötzlich war alles klar.
Rosellis Frau teilte ihnen am Telefon mit, er sei bereits zu einem Gig in der Stadt unterwegs. »Wo in der Stadt?« fragte Carella.
»Was soll das?« sagte sie. »Langsam regen Sie mich und die Kinder auf, wenn Sie uns ständig belästigen.«
»Tut mir leid, Mrs. Roselli«, sagte Carella. »Wir haben nur noch ein paar Fragen an ihn.«
»Er spielt im Pavillon im Seventh Street Seaport. Ich wünschte, Sie würden uns in Ruhe lassen. Wirklich«, sagte sie und legte auf.
Der Seaport war ein erst kürzlich wieder aufgebautes Viertel am River Dix. Zwei Blocks mit Souvenirläden und Imbißbuden säumten eine breite Straße, die zu einer ovalen Tanzfläche mit einem Pavillon für eine Kapelle dahinter führte. Stander schlugen in einer schwachen Brise vom Fluß. Musik trieb durch die warme Luft des Sommerabends. Roselli gehörte zu einer vierköpfigen Rockgruppe, die all die Golden Oldies spielte, die Carella auswendig mitpfeifen konnte. Als er die Musik hörte, die ihm als Heranwachsendem so wichtig gewesen war, und all die hübschen jungen Mädchen in den Armen stattlicher junger Männer sah, mußte er wieder daran denken, daß er bald vierzig werden würde. Auf dem Fluß fuhr ein Vergnügungsdampfer vorbei. Carella hörte den Reiseführer über den Lautsprecher; er erklärte den Passagieren gerade, daß sie am Seventh Street Seaport vorbeifuhren. Plötzlich kam ihm alles so quälend vor, als liefe er unmittelbar Gefahr, sich für immer zu verlieren. Es war zwanzig vor acht, und der Himmel verschmolz bereits mit dem Fluß.
»Da ist er«, sagte Brown.
Die Melodie klang aus. Die Teenager auf der Tanzfläche applaudierten. Die Band spielte eine kurze Erkennungsmelodie und kam von der Plattform. Carella konnte das Gefühl eines drohenden Verlusts nicht abschütteln.
»He«, sagte Roselli, »was suchen Sie denn hier?«
»Mr. Roselli«, sagte Brown, »woher wußten Sie, daß Katies Eltern tot waren?«
»Sie hat es mir gesagt«, erwiderte er. »Wann?«
»Als wir auf Tour waren. Sie war sehr betroffen darüber.«
»Sie hat Ihnen erzählt, daß sie einen Autounfall hatten?«
»Ja.«
»Und das hat sie Ihnen vor vier Jahren erzählt?«
»Irgendwann während der Tour, ich weiß nicht mehr, ob es genau vor vier Jahren war.«
»Und sie hat Ihnen erzählt, daß ihr reicher Bruder, der das ganze Geld geerbt hatte, nichts mit ihr zu tun haben wollte?«
»Ja.«
»Hat sie zufällig erwähnt, wann sich der Autounfall ereignet hat?«
»Nein.«
»Im vergangenen Juli, Sal.«
»Nicht vor vier Jahren, Sal.«
»Am 4. Juli, Sal. Dem Unabhängigkeitstag. Im vergangenen Jahr.«
Er sah sie an. Er rechnete nicht im Kopf nach, weil
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