Big Sky Country - Das weite Land (German Edition)
Parable verschlagen hat“, sagte sie in leisem, vertraulichem Ton. Es klang, als sei sie einem Geheimnis auf der Spur. „Es sei denn, du heiratest Hutch Carmody doch noch.“ Sie war fast außer Atem vor Aufregung. „Ihm würde eine Ehefrau ganz guttun. Vielleicht würde er durch sie ein bisschen ruhiger. Er hat nämlich einen Hang zu Abenteuern. Genau wie sein alter Daddy seinerzeit. Und die Familie seiner Mom, tja, die hat zwar immer wahnsinnig vornehm getan, aber das ganze Geld damals in den 20er-Jahren mit Alkoholschmuggel verdient. Davor waren die alle nichts weiter als ein paar arme Schlucker.“
Joslyn fühlte sich während Mrs Mulligans Redeschwall wie jemand, der auf einen fahrenden Güterzug aufzuspringen versucht. „Äh, nein“, entgegnete sie schließlich. „Es gibt keine Hochzeit. Ich meine, Hutch und ich sind zwar Freunde, aber zwischen uns läuft nichts.“
Daisy zwinkerte ihr zu. „Jedenfalls noch nicht.“
Nachdem Mrs Mulligan nun anscheinend alles gesagt hatte, was sie loswerden wollte, nickte sie kurz, drehte sich um und ging.
Joslyn beendete ihren Einkauf, zahlte an der Kasse und schob das doofe Einkaufswägelchen mühsam über den Schotter zu ihrem Auto.
Vor der vorderen Stoßstange saß ein dünner, schmutzig gelber Labrador, dessen Fell voller Kletten war. Er wirkte wie ein deprimierter Anhalter, der auf eine Mitfahrgelegenheit hofft.
Seit Spunky hatte Joslyn kein Haustier mehr gehabt. Sie war viel zu beschäftigt gewesen, um einem Hund oder einer Katze jene Aufmerksamkeit schenken zu können, die sie brauchten. Doch sie hatte ein weiches Herz, was Tiere betraf; vor allem dann, wenn eines so offensichtlich vom Glück verlassen war wie dieser Vierbeiner.
„Hey, Kumpel“, sagte sie, als sie ihre Einkäufe auf dem Rücksitz verstaut und das Wägelchen zurückgeschoben hatte. Jetzt bemerkte sie, dass der Hund ein Halsband trug, an dem mehrere Hundemarken baumelten. Und sie konnte seine Rippen erkennen. „Wem gehörst du denn?“
Er zitterte, lief jedoch nicht weg. Vielleicht hatte der arme Kerl nicht die Kraft dazu. So, wie er aussah, dürfte er schon eine ganze Weile auf sich allein gestellt sein.
Das Beste wäre, ermahnte Joslyn sich, ins Auto zu steigen und abzuhauen. Einfach nach Hause zu fahren, die gekauften Lebensmittel einzuräumen, nochmals in Kendras Büro vorbeizuschauen und dann etwas zu kochen. Schließlich hatte der Hund ja Hundemarken. Irgendjemand würde sich schon darum kümmern, dass er den Weg dorthin zurückfand, wo er hingehörte.
Oder auch nicht.
Genauso gut möglich war, nahm sie an, dass er von irgendeinem herzlosen Idioten ausgesetzt worden war. Einem, der sich nicht einmal die Mühe gemacht hatte, dem Tier das Halsband abzunehmen. Joslyn trat vorsichtig auf den Hund zu. Dabei streckte sie eine Hand aus, damit er ihren Geruch wahrnehmen konnte. Erschöpft beschnüffelte er ihre Finger und begann wieder zu zittern. Aber er blieb, wo er war.
„Du würdest mich doch nicht beißen, oder?“, sagte sie im Plauderton. Ihre Hand befand sich immer noch vor seinerSchnauze. „Ich will dir nämlich nicht wehtun, Kleiner, sondern nur einen Blick auf deine Hundemarken werfen, das ist alles.“
Sie hockte sich vor ihm hin und schaute ihm in seine treuherzigen braunen Augen. In seinem Blick lagen eine ratlose Traurigkeit und die schwache Hoffnung, dass ihm vielleicht doch irgendeine kleine freundliche Geste zuteilwerden würde. Vorsichtig hob Joslyn die ersten zwei Anhänger an seinem Halsband an. Die Nummern auf der ersten Marke waren teilweise abgewetzt, doch die zweite Marke bot mehr an Information. Der Name des Hundes war Jasper. Außerdem war eine Telefonnummer angegeben.
Joslyn kramte ihr Handy hervor und wählte. Es klingelte ein Mal. Ein zweites Mal. Und dann hörte sie eine tiefe und reservierte Stimme auf einem Anrufbeantworter. „Hier spricht John Carmody“, sagte der Mann. „Ich bin derzeit nicht erreichbar. Hinterlassen Sie Ihren Namen usw., dann rufe ich Sie zurück, falls ich Lust habe.“
Trotz des warmen Junitages bekam Joslyn auf beiden Armen eine Gänsehaut.
Es war lange her, dass sie das letzte Mal in Parable gewesen war, aber sie hatte mitbekommen, dass Hutchs Vater gestorben war. Kendra hatte es ihr gemailt, und Joslyn hatte sofort eine Beileidskarte geschickt. Offensichtlich hatte noch niemand MrCarmodys Ansage auf dem Anrufbeantworter gelöscht– mit dem Ergebnis, dass Joslyn nun das Gefühl hatte, gerade mit einem Toten geredet zu
Weitere Kostenlose Bücher