Big Sky Country - Das weite Land (German Edition)
doch diesmal war ihr Blick nicht so freundlich wie vorhin. Langsam schien es ihr zu dämmern, wen sie vor sich hatte. „Sie haben sich mir vorhin zwar vorgestellt, aber der Name hat mir im ersten Moment nichts gesagt“, murmelte sie. „Sie sind Elliott Rossiters Stieftochter. Ich wusste doch, dass Sie mir bekannt vorkommen.“
Joslyn schluckte. Da sie sich nicht dafür entschuldigen wollte, wer sie war, wusste sie nicht, was sie jetzt sagen sollte.
Marties ernster Gesichtsausdruck verschwand, und sie war nun wieder ganz die freundliche, kompetente Leiterin des „Paws for Reflection“. Kurz legte sie Joslyn eine Hand auf die Schulter und lächelte sie gütig und herzlich, allerdings auch ein wenig traurig an. „Ich habe gehört, dass Sie wieder in Parable sind, aber es ist mir anscheinend entfallen. Ich habe die ganze Zeit so verdammt viel zu tun.“
Joslyn musste die Frage stellen, obwohl ihr vor der Antwort graute. „Hat Elliott … hat er sie um ihr Geld gebracht?“
Grimmig nickte Martie. „Wir haben diesem Gauner unsere gesamten Ersparnisse anvertraut, Charlie und ich“, antwortetesie. „Charlie war damals mein Ehemann. Wir hatten die Familie Rossiter damals schon ewig gekannt. Wir wären nicht einmal im Traum auf die Idee gekommen, Elliott könnte ein Betrüger sein. Seine Familie war immer anständig und ehrlich. Trotzdem haben wir jeden Penny verloren, den wir hatten.“
„Es tut mir furchtbar leid“, sagte Joslyn heiser.
„Das muss es nicht“, antwortete Martie tapfer. „Sie können ja nichts dafür. Schuld waren Charlie und ich. Und Elliott. Egal, ich habe jedenfalls vor ein paar Wochen einen Riesenscheck mit der Post erhalten. Sogar nachdem ich Charlie – wir sind jetzt geschieden – die Hälfte des Geldes gegeben hatte, ist mir noch ein schöner Batzen übriggeblieben.“ Kurzes Schweigen. „Anscheinend ist also doch alles gut ausgegangen.“
Joslyn fragte sich, ob sie jemals alle Geschichten hören würde – jedes Opfer von Elliott hatte schließlich eine zu erzählen. Sie bezweifelte, dass die Zeit dafür jemals ausreichen würde, selbst wenn sie den Rest ihres Lebens in Parable bliebe.
Nicht, dass sie das vorgehabt hätte. Sie hatte sich bloß noch keine Alternative überlegt.
„So hat alles sein Gutes, schätze ich“, sagte Martie, schüttelte Joslyn die Hand und wandte sich zum Gehen.
„Ich bringe Lucy-Maude so bald wie möglich zum Impfen vorbei!“, rief Joslyn ihr nach.
„Tun Sie das“, erwiderte Martie freundlich. Dann verließ sie das Haus.
Joslyn setzte sich an ihren Schreibtisch und loggte sich mit dem Passwort, das Kendra ihr vor ihrer Abreise gegeben hatte, auf dem Computer ihrer Freundin ein. Dann versuchte sie, alle nicht privaten Mails, die sich im Posteingang angesammelt hatten, so gut es ging zu beantworten. Glücklicherweise waren es nicht allzu viele. Das Schreiben der Antworten dauerte allerdings eine Weile, da Kendra sie noch nicht eingearbeitet hatte.
Gegen drei Uhr hatte sie fast das ganze Internet nach Ausbildungsmöglichkeiten für Immobilienmakler abgegrast. Es war klar, dass sie eine Lizenz brauchte, wenn sie sich hier auf irgendeine Art und Weise nützlich machen wollte.
Sie fand einen Onlinekurs, vergewisserte sich, dass die Ausbildung in Montana anerkannt wurde, und meldete sich an.
Wenige Minuten später bekam sie per Mail die ersten Kursunterlagen zugesandt. Joslyn druckte sie aus, um sich nach Feierabend mit ihnen zu beschäftigen.
Kurz nach vier rief Kendra kurz an; sie hatte gerade einen zweistündigen Zwischenstopp in New York und würde dann nach London weiterfliegen. Sie klang wie betäubt und hörte sich so an, als würde sie eine vorbereitete Rede ablesen.
Joslyn hatte schreckliches Mitleid mit ihrer Freundin. Sie wünschte, sie – oder irgendjemand anderer – würde Kendra auf ihrer Reise begleiten und sie moralisch unterstützen. „Ich bin für dich da“, meinte sie. „Falls du mit jemandem reden möchtest, ruf mich an. Egal, um welche Tageszeit.“
Kendra seufzte leise und traurig. „Okay“, entgegnete sie mit der gleichen monotonen Stimme wie vorhin, „danke.“
„Kendra …“ Joslyn wollte gerade sagen, dass die Reise vielleicht doch keine gute Idee gewesen war, und vorschlagen, dass Kendra auf der Stelle kehrtmachen und nach Hause kommen sollte. Doch am anderen Ende der Leitung klickte es, und die Verbindung wurde unterbrochen.
Langsam legte Kendra auf, saß ein paar Minuten reglos da und dachte besorgt an
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