Bilder Aus Dem Berliner Leben
dichtem Grün zwischen einigen der Hauptverkehrsadern des heutigen Berlins und dem stattlichen Gebäude des Handwerkervereins in der Sophienstraße schräg gegenüber. Wer diesen weltentlegenen, der Gegenwart wie entrückten Winkel von Berlin in der rechten Stimmung sehen will, der sollte hierherkommen, wenn »des Tages Stimmen schweigen« oder zu verhallen beginnen. Ich sah ihn in der Abenddämmerung, als der Mond eben über die Kirchhofswipfel heraufkam und die Gräber und Grabsteine silbern zu beleuchten anfing, während von den Straßen her das entfernte Geräusch des heimwärts ebbenden Lebens scholl und auf dem einsamen, vom ersten Mondenstrahl berührten Pfad eine junge Diakonissin in weißem Kopftuch und schwarzem Gewande zu der von Lichtern hellen Sakristei ging.Es war, mitten in diesem großen, tumultuösen Berlin, wie ein leiser, sanfter Nachhall von Matthissons und Grays Kirchhofselegien – »far from the maddening crowd«.
Die Linienstraße dagegen möcht ich meinen Lesern lieber an einem freundlichen Frühlingsnachmittage zeigen, wenn, etwa nach einem gelinden Regen, sich ein leichter Wind aufgemacht hat, der den dicht aneinandergereihten Häusern Kühlung und in die Höfe dahinter gute Luft bringt. Denn dies ist eine sehr belebte Straße, die Grenze zwischen dem zentralen Berlin und dem Norden, recht ansehnlich in ihrem oberen Teile bis zum Koppenplatz, mit hübschen Wohngebäuden, Fabriken, Magazinen und hier und dort einem beladenen Frachtwagen vor den Türen. Vom Koppenplatz ab nimmt sie den Charakter des Kleinhandels und des Kleingewerbes an: mit all den starken Gerüchen und lauten Stimmen, die damit verbunden sind; aber auch mit manch einem übriggebliebenen Zuge des Kleinlebens, für welchen man im großstädtischen Straßengewühl weder den Raum noch den Humor mehr hat. Der Leiermann zum Beispiel, der Proskribierte, den sonst allerwärts das Plakat abweist: »Hier darf nicht musiziert und gebettelt werden« – in diesen Volksquartieren ist er immer noch eine beliebte Figur. Man kennt ihn, den Invaliden, an seinen Krücken, mit der Frau hinter sich, die seinen Leierkasten trägt; und man freut sich, wenn er kommt. Denn nach den Mühseligkeiten, der Last und Hitze des Tages ist er der Verkünder und Bote der nahenden Feierstunde. Wenn er gegen Abend erscheint, bringt er gleichsam die Ahnung dessen mit, was weitab von diesen Hinterhäusern und Höfen zu liegen scheint; und während sich da und dort ein Fenster öffnet und eine kleine Münze herabfällt, hat sich auch flugs schon um ihn herum eine Runde von Kindern gebildet, die nachden Rhythmen zu tanzen anfängt. Die Kinder sind die Tyrannen dieser Gegenden. Sie sind überall, und sie sind einem überall im Wege, schreiend, laufend, tanzend und springend. Es sind ihrer so viele! Aber sie haben auch so guten Mutterwitz! Da steht ein kleines, naseweises Ding mit langen, gelben Zöpfen mitten auf dem Trottoir, und ihre Gespielinnen, Hand in Hand, im Kreise um sie her.
»Was spielt ihr denn da, Kinder?«
»Ringel-Ringel-Rosenkranz!«
Ich kann mich nicht enthalten, dem hübschen, muntern Mädchen über das gelbe Haar zu streichen.
»Bitte, bitte«, ruft sie, »nich' anfassen.«
»Et färbt ab«, ruft eine andere mutwillig, und alle lachen. Dann schließen sie die Kette wieder, und jauchzend um die mit den gelben Zöpfen herumspringend, singen sie:
Ringel-Ringel-Rosenkranz,
Setz ein Töppken Wasser an,
Morgen wolln wir waschen.
Jroße Wäsche, kleene Wäsche;
Wenn der Hahn wird krejen,
Schlagen wir'n uf'n Brejen –
Mit diesen kleinen wehrhaften Berlinerinnen ist nicht zu spaßen, wie man sieht.
Der Koppenplatz, nach einem verdienten Bürger Berlins vom Anfange des vorigen Jahrhunderts genannt und ungefähr auf der Mitte der Linienstraße gelegen, hat eine lange, nicht eben heitere Geschichte. Wie an so vielen anderen Plätzen Berlins wandeln wir auch hier auf Gräbern – und auf was für Gräbern! An der Mauer eines der letzten Häuser des Koppenplatzes, da, wo dieser in die Große Hamburger Straße mündet, erhebt sich, über zwei Stufen, ein bescheidener Säulenbau, dessen Hinterwandauf einer schwarzen Marmortafel in schon verwitterten Goldlettern die Inschrift trägt: »Herr Christian Koppe, Ratsverwandter und Stadthauptmann zu Berlin, widmete diesen Platz und dessen Umgebung im Jahre 1705 als Ruhestätte den Armen und Waisen, in deren Mitte er selbst mit den Seinigen ruhen wollte und ruht. Sein Andenken ehrt dankbar die Stadt Berlin.
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